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Der Adler und der Drache: Plädoyer für die deutsch-chinesische Freundschaft
Anmerkungen eines chinesischen Germanisten zu einer traditionsreichen Beziehung in schwierigen Zeiten
Stand:
An das Jahr 2022 denken Chinesen, denen etwas am freundschaftlichen Verhältnis zu Deutschland liegt, ungern zurück. Denn ausgerechnet in dem Jahr, in dem sich die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zum 50. Mal jährte, hatte unsere bilaterale Beziehung einen Tiefpunkt erreicht. Die erhofften großen Jubiläumsfeiern blieben aus; persönliche Begegnungen waren eine Seltenheit. Bundeskanzler Olaf Scholz entschied sich für Japan als Ziel seiner ersten Asienreise, und auf dem Rückweg machte er einen Bogen um das Reich der Mitte. Angela Merkel hatte uns einst diplomatische Priorität gegeben: China war das erste Land, das sie in Asien besucht hatte; sie bereiste China während ihrer Amtszeit als Kanzlerin insgesamt zwölfmal.
Mitten in dieser politischen Eiszeit vernahmen wir, wie heiß das Thema Abwendung von China in Deutschland diskutiert wurde. Daher wurde der eintägige November-Besuch von Olaf Scholz hierzulande als eine positive Zeitenwende angesehen, zumal er sich kurz vor seiner China-Reise gegen die Entglobalisierung ausgesprochen hatte.
Für uns Chinesen begann das Jahr 2023 im Zeichen des Optimismus. Zum einen wurden die Corona-Maßnahmen, die sowohl die eigene Wirtschaft als auch die Außenbeziehungen schwer belastet hatten, kurz vor dem Jahreswechsel aufgehoben. Zum anderen erwies sich die Befürchtung, dass hochgefährliche Virusmutationen entstehen könnten, wenn sich über eine Milliarde Chinesen mit Omikron infizieren, als unbegründet.
Eine Art Tauwetter
Zum Dritten kam im vergangenen April plötzlich so viel Bewegung in die sino-europäischen Beziehungen, dass wir nun dazu tendieren, das Geschehene als eine Art Tauwetter zu deuten. Wir hatten wir nicht nur den französischen Staatspräsidenten Macron, die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und die deutsche Außenministerin Baerbock zu Gast; viel mehr war im Zusammenhang mit diesen Staatsbesuchen eine Polyphonie in den europäischen China-Debatten zu vernehmen.
Emmanuel Macron riet den Europäern nicht nur davon ab, gegenüber China „Vasall“ der Amerikaner zu sein, einschließlich der Taiwan-Frage, sondern er twitterte auch in drei Sprachen (Französisch, Englisch und Chinesisch): „Es lebe die französisch-chinesische Freundschaft!“ Um diesen Satz beneide ich als Germanist von Herzen meine romanistischen Kollegen. Ursula von der Leyen hielt am 18. April im Europaparlament eine beachtenswerte Rede über China.
Da sprach sie einerseits im respektvollen Ton von China angesichts seiner alten Kultur und seiner einmaligen Leistungen in der Armutsbekämpfung und warnte die Europäer vor Schwarz-Weiß-Malerei. Andererseits riet sie, den Blick mehr auf Risikominderung statt auf Entkopplung zu richten. Schließlich kann man auch mit Zufriedenheit auf den Besuch von Annalena Baerbock zurückblicken. Sie hatte sich – einmal sehen ist eben besser als hundertmal hören – in unserem Land ein wenig umschauen können und außer kritischen auch anerkennende Worte gefunden.
Erinnerung an die Goldene Bulle
Mir fiel besonders auf, dass sie zum viersprachigen Namenschild am Eingang des Lamaklosters, dem Symbol der Vielvölkerstaatlichkeit Chinas, aufgeblickt hatte. Ich denke jedesmal, wenn ich das Schild sehe, an die Goldene Bulle, das Grundgesetz des Heiligen Römischen Reiches, in dem es heißt, der Sohn eines Kurfürsten müsse mit sieben Jahren anfangen, vier Sprachen zu lernen: Deutsch, Italienisch, Tschechisch und Latein.
Am 25. April hielt überdies der britische Außenminister James Cleverly in London eine Rede über China, die aufhorchen ließ. Er warb nämlich für die Kooperation mit China, einem Land, das er respektiert, weil es auf eine Geschichte von 2000 Jahren zurückblicke und 800 Millionen Menschen aus der absoluten Armut geholt habe. Dabei imponierte er uns mit einem Geschichtswissen über China, das für einen Diplomaten aus dem Westen ungewöhnlich ist.
Was mich an seiner Rede irritiert und zugleich fasziniert, ist der Umstand, dass er sich nicht davon abhalten ließ, eine Warnung wegen der Taiwan-Frage in Richtung Beijing zu richten, es ihn aber auch nach einer Erklärung für den uralten und ununterdrückbaren Wunsch der Chinesen nach der Wiedervereinigung verlangte. Dazu zitierte er aus dem Roman „Die Geschichte der drei Reiche“ und verwies explizit auf das Jahr 221 v. Ch. In jenem Jahr fand nämlich die Vereinigung Chinas durch Qin Shihuang statt, dessen Gegenstück in der deutschen Geschichte Hermann der Cherusker gewesen wäre, wenn dieser es geschafft hätte, die germanischen Stämme zu vereinigen.
Mangelnde Resonanz in Deutschland
Mitunter hat man leider nur den Eindruck, als ob sich die Chinesen mit den Deutschen noch schwerer verständigen könnten als mit anderen Westlern. Als Germanist stelle ich nicht ohne Verwunderung fest, dass die chinesische Literatur in Deutschland viel weniger Resonanz findet als in anderen westlichen Ländern einschließlich der USA: Während die repräsentativen chinesischen Schriftsteller der Gegenwart fast alle in anderen westlichen Ländern in irgendeiner Form ausgezeichnet worden sind, ist kaum einem von ihnen in Deutschland ein Literaturpreis zuerkannt worden.
Die chinesische Lyrik hatte etwa in Gestalt der Tang-Gedichte längst das Niveau der Weimarer Klassik erreicht, als das älteste Buch auf Deutsch im Jahr 780 erschien.
Huang Liaoyu
Man wisse: In Deutschland werden jährlich so viele Literaturpreise verliehen wie in kaum einem zweiten Land auf der Welt. Was die deutsche Kultur so deutlich von der chinesischen trennt, ist meines Erachtens weniger der Altersunterschied (die chinesische Lyrik hatte etwa in Gestalt der Tang-Gedichte längst das Niveau der Weimarer Klassik erreicht, als das älteste Buch auf Deutsch im Jahr 780 erschien) als der Mentalitätsunterschied. Die deutsche Mentalität ist nämlich einerseits so tief durch die christliche Religion geprägt und andererseits durch den Deutschen Idealismus, dass die Deutschen ein missionarisches Sendungsbewusstsein haben und dazu neigen, dem Ideellen das Primat vor dem Materiellen zu gewähren.
Am deutschen Wesen mag die Welt einmal genesen: Das verkündete der Dichter Emanuel Geibel 1861 in einem Gedicht. Mitten im Ersten Weltkrieg schrieb Thomas Mann, dass er „kein Lebens- und Sterbensinteresse an deutscher Handelsherrschaft“ habe, und dass einem erst im Lande Kantscher Ästhetik Deutschlands Sieg ohne Interesse gefallen würde. Die Chinesen, deren traditionelle Kultur durch geistige Bodenständigkeit und polytheistische Praxen gekennzeichnet ist, kennen hingegen weder das monotheistische Sendungsbewusstsein noch den Willen zum philosophischen Höhenflug. Das chinesische Gebot „Was du nicht selbst erfahren willst, tu keinen anderen an“ (Konfuzius) steht in einem interessanten Kontrast zum deutschen Credo „Was ich gut finde, das teile ich mit dir.“
Abbau von Vorurteilen
Was den Idealismus in der deutschen Chinapolitik am deutlichsten offenbart, ist das Prinzip „Wandel durch Handel“, Deutschlands größter Handelspartner ist offensichtlich weit davon entfernt, zum geistigen Ebenbild der Europäer zu werden. In China, wo solche Debatten so gut wie unbekannt sind, stieße das Credo „Wandel durch Handel“ entweder auf völliges Unverständnis oder – im Gegenteil – auf große Zustimmung, die aber etwas Anderes bedeuten würde. In China dächte man sich eher, dass ein Handelsgeschäft zum gegenseitigen Nutzen und zum Abbau der Vorurteile des Gegenübers dienen sollte, um den Geschäftspartner freundlicher zu stimmen.
Ursprünglich hatte Deutschland zeitgleich mit Frankreich, also im Jahr 1964, diplomatische Beziehungen zu China aufnehmen wollen und dementsprechend zur Verhandlung mit China in die Schweiz gereist, die jedoch schnell abgebrochen wurde. Ein Grund war, dass die USA kein grünes Licht gegeben hatten. Dieses kam erst mit dem China-Besuch von Richard Nixon im Februar 1972. Im Fahrwasser dieses Ereignisses flogen nicht nur Regierungsvertreter der BRD, sondern auch von England, Japan und Australien Richtung Peking.
Und heute? Ist es für Deutschland wieder Zeit, kollektiv zu handeln und dem Aufruf der USA zum „decoupling“ zu folgen? Dass die wirtschaftliche Entkopplung von China nicht im Interesse von Deutschland liegt, versteht sich von selbst. Die USA sind aber nicht nur Sieger, Helfer und der große Bruder gegenüber Deutschland, sondern auch Führer der NATO, der die Bundesrepublik Deutschland gleich nach ihrer Geburt beitrat. Außerdem ist Deutschland eine verspätete Nation und hat bekanntlich einen langen Weg nach Westen zurückgelegt, und die USA befinden sich im äußersten Westen.
In Frankreichs Schuld
Es sei einem Nicht-Westler erlaubt, ein Wort über die Westorientierung, die von Anfang an zum Staatsprinzip der Bundes erhoben wurde, zu verlieren: Im Westen liegen nicht nur das Land der Unabhängigkeitserklärung und das Land der Magna Charta, sondern auch das Land der europäischen Aufklärung und der Ideen von 1789: Es machte 1792 Ausländer, die die Freiheit besangen (wie Klopstock und Schiller) oder erkämpften (wie George Washington oder den Militäringenieur Tadeusz Kosciuszko), zu seinen Bürgern, war 1794 bereits entschlossen, die Freiheits- und Gleichheitsidee „ohne Unterschied der Hautfarbe“ zu verwirklichen, und schuf dementsprechend die Sklaverei in seinen Kolonien ab, die woanders noch 200 Jahre fortbestehen sollte. Dass die Statue der Freiheitsgöttin, die bis heute noch den New Yorker Hafen dekoriert, ein Geschenk Frankreichs war (1886), sollte ebenfalls erwähnt werden.

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Vor 50 Jahren distanzierten sich die Chinesen noch fast vollständig vom sämtlichen Gedanken- und Kulturgut aus Europa – abgesehen von den Schriften der marxistischen Klassiker und der „Internationale“. Von diesem generellen Boykott war nicht einmal die Musik von Beethoven ausgenommen.
Das führte dazu, dass der berühmte Dirigent Li Delun abwinkte, als man ihm vorschlug, in der Großen Halle des Volkes zur Feier der Unterzeichnung des Vertrages zum Gemeinsamen Kommuniqué über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen unserer beiden Länder durch Walter Scheel und Ji Pengfei am 11. Oktober 1972 den 4. Satz von Beethovens 9. Symphonie zu dirigieren. Sein Orchester hatte nämlich sieben Jahre lange keine Proben mehr gemacht!
50 Jahre später kam es zum radikalen Kurswechsel in der China-Politik der USA. Dass nicht Unterschiede in den Wertevorstellungen zu diesem Kurswechsel geführt haben, wird jedem bewusst, der einmal vernommen oder gelesen, was Barack Obama 2010 in einer Rede in Australien über China sagte: „Unser Planet würde es nicht ertragen, wenn über eine Milliarde Chinesen so lebten wie Australier und Amerikaner.“
Daher verwundert es nicht, dass sich die USA unter der Obama-Regierung dem indopazifischen Raum zugewandt haben. Die nachfolgende Trump-Regierung sprach in einem ähnlichen Ton über China. Kiron Skinner, Sicherheitsberaterin für das Weiße Haus, bezeichnete vor laufender Kamera das heutige China als die erste „nicht-kaukasische“ Weltmacht, die eine schlimmere Herausforderung darstelle als die ehemalige Sowjetunion, da die Russen immerhin der Großfamilie der Abendländer angehören ... O Freunde, nicht diese Töne!
Diese Töne haben wir zum Glück aus Deutschland nicht vernommen. Ich wünsche mir eine deutsch-chinesische Beziehung, die den Warenhandel ebenso begünstigt wie den Gedankenaustausch. Schön wäre es, wenn sich unsere bilateralen Beziehungen wieder wie zwischen 2007 und 2010 im Zeichen von „Deutschland und China – Gemeinsam in Bewegung“ entwickelten.
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