
© Masha Pryven; VG Bild-Kunst, Bonn 2025
Fotobuch „Alphabet des Krieges“: Zwischen B wie Bombardierung und V wie Verlust
Die Künstlerin Masha Pryven veröffentlicht gemeinsam mit geflüchteten ukrainischen Jugendlichen ein persönliches Alphabet, das zeigt, wie sich Krieg anfühlt.
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Das Fotobuch „Alphabet des Krieges“ überrascht – es verzichtet auf die üblichen direkten Darstellungen: keine endlosen Ruinen, keine trauernden Gesichter, keine Trümmerlandschaften. Viele Fotoprojekte zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine setzen bewusst auf Schockeffekte, um Empathie beim westlichen Publikum zu erzeugen. Die Fotokünstlerin Masha Pryven verfolgte ein anderes Ziel.
Das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit ukrainischen Jugendlichen, die seit 2022 in Berlin leben. Anhand der 26 Buchstaben des Alphabets erklären sie Kindern und Erwachsenen, wie sich der russische Krieg aus ihrer Sicht anfühlt.
Gefühl der Stummheit
„Ich wollte mit dem Buch ein mehrstimmiges Bild ermöglichen, in dem die Jugendlichen auf Augenhöhe mit Erwachsenen in Deutschland über den Krieg sprechen können und nicht nur an das Herz, sondern auch an den Verstand appellieren“, so Pryven.
Dieses Projekt ist aus einem Gefühl der Stummheit entstanden, aber auch aus dem Bedürfnis nach Verbindung. Die acht jungen Flüchtlinge, die mitgearbeitet haben, entschieden sich zunächst für einzelne Wörter, für die sie dann Bildideen entwickelten. Anschließend nahmen sie Fotos auf – oft nach mehrwöchigem Diskutieren und Ausprobieren. Damit wurden sie Co-Autoren der Künstlerin Masha Pryven, die im Bereich der kollaborativen Fotografie arbeitet.
Masha Pryven lebt seit 2014 in Berlin. Sie kommt aus Luhansk, einer Stadt in der Ostukraine nahe der russischen Grenze, in der 2014, mit russischer Unterstützung, eine „Volksrepublik“ ausgerufen wurde.

© Philippe Kayser
Die Ukrainerin unterrichtete Spanisch und Englisch am Immanuel-Kant-Gymnasium in Lichtenberg, als dort im Frühjahr 2022 eine Gruppe ukrainischer Flüchtlinge ankam. Sie kamen sofort in Kontakt: Masha Pryven war die einzige ukrainischsprachige Lehrerin des Gymnasiums. Die neuen Schüler klagten über Unsicherheit: Man halte sie vermutlich für „dumm“, weil sie die Sprache nicht beherrschten. Pryven schlug vor, sie sollten ihre Gefühle in Bildern ausdrücken.
Mit einem Stipendium kaufte die Künstlerin mehrere gebrauchte Kameras, brachte den Jugendlichen die Grundzüge der fotografischen Sprache bei, und diese stellten sich der anspruchsvollen Aufgabe, den Krieg in ihrer Heimat abzubilden, während sie selbst im friedlichen Berlin waren.
Im Buch wird nun etwa das Wort „weg“ unerwartet mit einem in Seifenwasser schwimmenden Besen dargestellt. „Als wir plötzlich aus unserer Wohnung wegmussten, war mein letzter Gedanke, dass das Geschirr nicht gespült war“ – steht in der Erklärung zu diesem Wort.

© Masha Pryven, VG Bild-kunst Bonn 2025
Oder beim Buchstaben M wie „Mutter“ sieht man auf dem Bild ein Mädchen, das behutsam eine müde Frau umarmt, die auf ihrem Schoß liegt. „In schweren Zeiten wird die Tochter zur Beschützerin“, steht dabei.
Recht auf eigene Gefühle
Für die Jugendlichen geht es nicht so sehr darum, Mitleid zu erregen, sondern ihr Recht auf eigene Gefühle zu beanspruchen. Eines dieser Gefühle ist Hass. Auf einem der Fotos verbrennen sie ein Zeitungsbild eines Mannes, der eine Mütze in den Farben der russischen Trikolore trägt. „Wir haben das Recht, alles zu hassen, was mit Russland zu tun hat“, steht in der Erklärung dazu.
Zu den eindrücklichsten Fotos gehört eine Rückenansicht: Auf die Haut eines Jugendlichen sind mit rotem Stift die Worte „Donezk“, „Luhansk“ und „Krim“ geschrieben, gestrichelte Linien markieren die Grenzen der Gebiete. Laut Pryven wollte die Gruppe ursprünglich eine Karte der von Russland besetzten Gebiete machen. „Auf dem Foto kam es uns dann aber so vor, als markierten die Linien Teile eines Körpers, die von einem Chirurgen abgetrennt werden sollen“, erzählt die Künstlerin.
Nach Ansicht der Jugendlichen sei auch die mehrjährige Appeasement-Politik Deutschlands gegenüber dem Aggressor für die russische Besetzung mitverantwortlich. „Das ist der Preis des deutschen Pazifismus für die Ukraine“, steht in der Erklärung zum Buchstaben P wie „Pazifismus“.
Die alphabetische Reihenfolge wird in „Alphabet des Krieges“ nicht eingehalten – die Worte sind willkürlich angeordnet. Laut Pryven ein Symbol dafür, dass der Krieg die vertrauten Abläufe zerstört hat. Die Jugendlichen mussten fliehen und sich eine neue Identität in einer fremden Stadt und mit einer fremden Sprache aufbauen.
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