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Der Schriftsteller Helmut Lethen.

© dpa/Arno Burgi

Hellmuth Lethen stellt seine „Stoischen Gangarten“ vor: Ballspieler auf dem Feld der Literaturwissenschaft

Intellektuelle Gleichgewichtsübungen: Helmuth Lethen macht sich in seinem Buch „Stoische Gangarten - Versuche der Lebensführung“ Gedanken über den Ukraine-Krieg, Wehrhaftigkeit und mahnt bei seiner Lesung zu „ruhig Blut“

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Wollte man Leben und Werk Helmut Lethens auf eine Formel bringen, dann ist es sein Ringen um Fassung. Wie kann der Mensch, der wie seine Erinnerung aus dem Jahre 2020 in Anlehnung an Brecht titelt „für dieses Leben nicht schlau genug“ ist, den Zumutungen und Überforderungen standhalten, ohne sich im Strudel der zerfallenden linksradikalen Bewegung zu verlieren, zur „kalten persona“ zu werden oder zur „Kreatur“, die sich unter der Babydecke in der Couchecke verkriecht?

Diese Typologie hatte der in Wien lebende Kulturwissenschaftler 1994 in den weithin bekannten „Verhaltenslehren der Kälte“ aus der Literatur der Zwischenkriegszeit destilliert, in der Illusion, ein mentales Ordnungsschema stoischen Verhaltens zu finden. Als Leitmotiv diente ihm damals der anthropologische Befund Helmut Plessners, wonach der „Mensch von Natur aus künstlich“ sei. Das Buch endet mit einem kurzen Kapitel über die „Verlassenheit“ im Zeitalter totalitärer Herrschaft. Nicht wissen konnte Lethen damals, dass das Szenario, das er historisierend in den Blick nahm, noch einmal so aktuell werden könnte.

Über 30 Jahre später nimmt er nun explizit Abstand von diesen „Lebensversuchen zwischen den Kriegen“, die er als Angriff auf den „Kult der Betroffenheit“ der 1980er Jahre verstanden wissen will. „Stoische Gangarten“ heißt sein neues Buch, das er in der engen Knesebeck-Buchhandlung vor einem angejahrten, hörbar bewanderten und man darf annehmen Westberliner Publikum vorstellte. Der Untertitel „Versuche der Lebensführung“ knüpft zwar scheinbar an die „Verhaltenslehren“ an, doch sein Buch sei, erklärte der Autor vorauseilend, nicht als „Handorakel“ im Sinne Balthasar Gracíans, jenes höfischen Jesuiten des Barock, der ihm schon einmal Pate gestanden hatte, zu verstehen, kein handlungsleitendes Brevier in Zeiten der Unsicherheit.

Titel kann ich!

Helmuth Lethen bei seiner Lesung in der Knesebeck-Buchhandlung

Dazwischen gekommen war nämlich ein „reales Schmerztheater“, sein „Kopfunglück“, wie Lethen es nennt, das ihm fast das Leben gekostet hätte. Schon die beiden Krankenschwestern, die ihn pflegten und denen er das Buch widmet, machten sich über seine „theoretische Selbstüberschätzung“ lustig. Es brauchte offenbar den Rückwurf auf das Schmerzdrama, um endlich auf den Körper als existenzbedingende Grundlage zu kommen. Diesmal mit einem Leitmotiv aus Georg Büchners „Danton“, das sich durch das Buch zieht: „Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.“

Insofern sind die „Gleichgewichtsübungen“ in Stoizismus des 86-Jährigen, die körperlichen Malaisen von einem frischen Kopf bezähmt, von einer gewissen Demut geprägt. Im leicht verwaschenen Gladbacher Idiom überträgt sich die leise Selbstironie ins Publikum, einverständiges Lachen gerade bei den privaten Passagen, „klingt fast wie aus Minima Moralia, nicht?“, wirft er ihm vom kargen Pult aus zu. Kein Widerspruch. Parataxe affine Studierende werden sich nur noch schwer durch dieses voraussetzungsvolle, elaborierte Geflecht finden.

Der 86-Jährige wagt eine kritische Revision

Der Leseparcours – das Buch ein Mosaik aus biografischen Szenen, immer wieder inspirierenden Lektüreerfahrungen und verhaltener Zeitdiagnose – führt von Flauberts „Lehrjahren des Herzens“, Gewährsmann für den „Absturz in ‚stoische Freude‘“, über die Exerzitien des Schmerzes bei Hannah Arendt und die „Liebe in den Gorges du Tarn“ bis zum langen Schlusskapitel „Einsamkeit und Rheinmetall“: „Titel kann ich!“, begeistert sich Lethen.

Vieles kennt man aus dem einen oder anderen Buch der vergangenen Jahre, etwa die exquisite Bildexegese, die der Träger des Leipziger Literaturpreises schon „Im Schatten des Fotografen“ (2014) vorgelegt hat. Die „geschulte Rücksichtslosigkeit“ der Sachlichkeit im Berufshabitus, Max Webers, der Kälte-Freak Ernst Jünger, der einer Relektüre unterzogen wird - „er trägt Verantwortung für selbstmörderische Aktionen lieber als Ohnmacht“ – oder die „Droge Benjamin“: In der einen oder anderen Form war das alles schon mal da, nur dass Lethen seine immer schon virulente Faszination für heroische Denkfiguren (und Kriegsliteratur, wie er einräumt, bis hin zu Landserheftchen) etwas hinter sich lässt und einer kritischen Revision unterzieht.

Als Angehöriger einer schon genetisch für „intellektuelle Wehrlosigkeit“ veranlagten Generation (in Westdeutschland) sieht er sich nämlich plötzlich einer Situation gegenüber, in der diese Denkfiguren nicht mehr nur Spielbälle auf dem literaturwissenschaftlichen Feld sind, die man nach Belieben hermeneutisch hin und herbewegen kann, sondern sie erleben eine politische Reinkarnation in Form von Forderungen nach heroischem Soldatentum und „Schicksalsgemeinschaft“ gegen „Putins Krieg“.

Der Waffenproduzent Rheinmetall, schreibt er im letzten Kapitel, erscheine nun als „pulsierender Glutkern friedliebender Politik“, und er zitiert Peter Sloterdijk, dass „Vorurteilslosigkeit weniger einer philosophische als eine waffenhändlerische Tugend sei“, wenn es darum geht, ökonomische Interessen als friedenspolitisches Ziel darzustellen. Mit Büchner: „Geht einmal euren Phrasen nach…“.

Helmut Lethen zu unterstellen, sein Buch forciere die kriegspolitische „Zeitenwende“, wäre nicht ganz gerecht, auch wenn ihn, wie er in Berlin sagte, der Ukraine-Krieg zum Umdenken in seiner angelernt pazifistischen Haltung geführt habe. Doch der aktuelle Appell nach Wehrhaftigkeit, glaubt der Leutnant der Reserve, treffe auf eine Gesellschaft von Vereinzelten, deren Körper von der Herausforderung nach „Kriegstüchtigkeit“ kaum berührt werden könne. Ist die Furcht vor der Wiederkehr einer neuen „preußischen Militärmacht“ also übertrieben? Keine „Kältebäder“ mehr, in die künftig deutsche Soldaten getaucht werden?

Ein gewisser Zweifel ist da auch beim Berliner Publikum spürbar, als der Autor nach der „Omnipräsenz des Militärischen“ in seinem Buch gefragt wird und er darauf mit dem Hinweis auf die „Vertrauenszonen“ in „kleinen Einheiten“ reagiert. Er plädiert für den stoischen ausgleichenden Umgang mit Paradoxien und das „ruhige Blut“, auch „die feindlichen politischen Lager zu inspizieren“. Das kennt er von Zuhause, seine Frau Caroline Sommerfeld gehört bekanntlich dem Lager der Identitären an.

Was aber, wenn Paradoxien praktisch nicht gelöst werden können, etwa dergestalt, dass man Wehrhaftigkeit unterstützen mag, seine Sprösslinge aber dennoch nicht in den Krieg geschickt sehen will wie Lethen seine fünf Söhne? Der von der Kritik bemängelte „Resonanzraum der Ratlosigkeit“, den sein Buch eröffnet, setzt letztlich das intellektuelle Spiel der „Verhaltenslehren“ fort. In Paradoxien ist gut einrichten, wenn man Welt und Zukunft explizit für gar nicht mehr verfügbar hält. Keine gute Hinterlassenschaft an die Nachgeborenen.

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