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Kultur: In die Tiefe der Gegenwart

Ein letztes Buch: Der Zeitdiagnostiker und wütende Idealist Tony Judt im Gespräch mit Timothy Snyder.

Es war der britische Marxist Eric Hobsbawm, der Tony Judt Ende der 60er Jahre den Unterschied zwischen linker Politik und studentischem Aktivismus erklärte; Hobsbawm brachte dem 20-jährigen Geschichtsstudenten den analytischen Marx nahe. Der polnische Reformmarxist Leszek Kolakowski wiederum legte Judt ein Jahrzehnt später dar, dass bei aller gewinnbringenden intellektuellen Beschäftigung der Marxismus keinen politischen Nutzen oder moralische Werte besaß: „Nachdem ich Kolakowski gelesen hatte, der den Leninismus als plausible, wenn nicht gar zwangsläufige Interpretation von Marx betrachtete (und als die einzige politisch erfolgreiche, die wir haben), fiel es mir immer schwerer, an der (mir schon als Kind eingeimpften) Unterscheidung zwischen marxistischer Theorie und sowjetischer Realität festzuhalten.“

Tony Judt sagt das in den Gesprächen, die er 2009 mit dem Historikerkollegen Timothy Snyder geführt hat; Snyder hatte dem an einem unheilbaren degenerativen Nervenleiden erkrankten Judt ein gemeinsames Buch vorgeschlagen, und zwar auf der Grundlage ihrer Gespräche in Judts New Yorker Wohnung. „Nachdenken über das 20. Jahrhundert“ heißt dieses Buch, das zweierlei geworden ist: eine politische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts und die intellektuelle Biografie des 2010 verstorbenen Judt, gerade im Vergleich zu seiner ebenfalls posthum erschienenen persönlichen Biografie „Das Chalet der Erinnerungen“.

Dreh- und Angelpunkt von Judts und Snyders Nachdenken über das 20. Jahrhundert ist die Auseinandersetzung mit dem Marxismus, mit linken Ideen, mit den „linken Erben des liberalen Europas“. Schon mit 13 Jahren bekam der 1948 in London geborene Judt von seinem Vater Isaac Deutschers dreibändige Trotzki-Biografie geschenkt; zwei Jahre später sollte er in Israel in einem Kibbuz arbeiten und sich „in den Zionismus und seine ideologischen Halbschatten stürzen“; alles Einflüsse und Auseinandersetzungen, die sein frühes Schaffen als Historiker mit dem Schwerpunkt Frankreich bestimmten, in Abhandlungen über den „Marxismus und die französische Linke“ oder einer Geschichte über die linken Intellektuellen im Paris der Nachkriegszeit. Kolakowski und die Begegnung mit dem auch aus Polen stammenden Soziologen und Historiker Jan Gross machten dem zwischen Paris, Oxford, Cambridge und den USA pendelnden Judt in den 80er Jahren „peinlich“ bewusst, wie wenig er von Osteuropa wusste, wie sehr sich sein spielerisches 1968 von dem doch sehr existenziellen der osteuropäischen Jugend und Intellektuellen unterschied: „Im Lauf dieser Jahre fand ich allmählich meinen Platz in einer anderen Welt, in einer anderen Geschichte, die wahrscheinlich schon immer in mir gesteckt hatte und die ich nur geahnt hatte. Eine Geschichte, in der Osteuropa mehr war als nur ein Ort – diese Geschichte war für mich nun ein direkter und sehr persönlicher Bezugspunkt.“ Tatsächlich hat diese Geschichte biografische Hintergründe, schließt sich hier ein Lebenskreis. Denn die Familien von Judts Eltern stammten aus dem jüdischen Osteuropa, aus Polen, Russland und Litauen. Judt wuchs zwar als typisches Mittelschichtskind auf; ihm war aber seine jüdisch-osteuropäische Herkunft stets bewusst, gerade während der Besuche bei seiner litauisch-jüdischen Großmutter wurde er jedes Mal „in ein warmes jiddisches Bad getaucht“.

Judt lernt Tschechisch und wendet sich in seinen Forschungen verstärkt Osteuropa zu. Seit den frühen 90er Jahren lehrte er an der New York University, später gründet er in New York das Erich-Remarque-Institut, es folgt seine fulminante Nachkriegsgeschichte Europas und Artikel zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts.

Obwohl Tony Judt nie speziell über Themen der jüdischen Geschichte geschrieben, den Holocaust in seinen Arbeiten eher umgangen hatte, beginnt er nun auch öffentlich, sich mit Israel auseinanderzusetzen und dessen Siedlungspolitik und Holocaust-Fixierung zu kritisieren. Eine „kalkulierte rhetorische Strategie“ nennt er die israelische Politik Snyder gegenüber. „Man kann sehen, wie nützlich es für einen kleinen Staat in einer Konfliktregion ist, bei jeder Gelegenheit auf seine Gefährdung und Hilflosigkeit und auf die Notwendigkeit ausländischer Unterstützung hinzuweisen. Aber das erklärt nicht, warum das Ausland dabei mitmacht. Die Antwort lautet natürlich, dass das sehr wenig mit der realen Situation im Nahen Osten zu tun hat und alles mit dem Holocaust.“

Es zeichnet diese Gespräche aus, dass sie immer wieder die politische Aktualität streifen. Judt lässt es sich als Sozialdemokrat und Befürworter des Sozialstaats nicht nehmen, mit der amerikanischen Außen- und Innenpolitik abzurechnen. Judt und Snyder versuchen, ihr Selbstverständnis als Historiker zu benennen, das von Intellektuellen überhaupt; sie diskutieren die politischen Ideen des Jahrhunderts, warum sie gescheitert sind, an welchen man festhalten sollte.

Das ist manchmal fachspezifisch, und Snyder ist oft nur mehr Stichwortgeber und unterbricht Judt in seinen Erörterungen hin und wieder störend. Trotzdem ist es verblüffend, wie Judt stets die Bezüge zur Gegenwart herzustellen versucht. Bei jedem Themenkomplex spürt man, dass hier kein routinierter Historiker sein intellektuelles Leben und das 20. Jahrhundert Revue passieren lässt, sondern ein trotz schwerer Krankheit wacher Zeitdiagnostiker und wütender Idealist. Als solcher betont Judt, wie wichtig der Unterschied zwischen Geschichte und Erinnerung ist; dass die Fakten stimmen müssen und man als Historiker zeigen muss, dass bestimmte Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben und welche Konsequenzen sie für die Beteiligten hatten. Geradezu als Historikerpflicht sieht er es aber an, sich für das Gemeinwesen zu engagieren: „Wenn irgendein Depp erklärt, Saddam Hussein sei ein neuer Hitler, müssen wir in den Ring steigen und dieser Simplifizierung entgegentreten.“

Überzeugt sei er, dass ein Historiker hinter seinem Werk zurücktreten müsse, schreibt Judt zwar im Nachwort. Im Verein mit dem „Chalet der Erinnerungen“ und dem wütenden Pamphlet „Dem Land geht es schlecht“ (2011) ruft dieses Buch aber einmal mehr in Erinnerung, was für ein Verlust sein früher Tod ist – und wie wichtig es ist, gerade als Historiker stets darauf aufmerksam zu machen, was in Gesellschaft und Politik schiefläuft.

– Tony Judt, Timothy Snyder: Nachdenken über das 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Hanser Verlag, München 2013. 412 Seiten, 24,90 Euro.

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