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Das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in einer Szene des Films «Shoah».

© dpa/Les Films Aleph

Kolumne „Mehrwert“: Zeit für die Wahrheit

Auf der Berlinale ist Claude Lanzmanns „Shoah“ wiederzusehen. Neun Stunden dauert der Dokumentarfilm, der vor 40 Jahren eine Zeitenwende markierte. Warum die Wahrheit einen langen Atem braucht.

Christiane Peitz
Eine Kolumne von Christiane Peitz

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Pressevorführung im alten Arsenal-Kino in der Welser Straße: neun Stunden „Shoah“ von Claude Lanzmann. Es war vor 40 Jahren, damals jährte sich das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung von Auschwitz zum 40. Mal.

Ich erinnere mich gut, an den Friseur Abraham Bomba, der Haare schneidet, während er berichtet, wie er den Frauen vor der Gaskammer in Treblinka die Haare geschnitten hat. Bis er zusammenbricht. An den Lokführer und seine Geste des Halsabschneidens. An die rangierenden Waggons vor dem Vernichtungslager. An die Pause nach der Hälfte der Vorführung, wir standen draußen vor dem Kino, rauchten, hatten keine Worte.

Der Holocaust liegt nun 80 Jahre zurück, Claude Lanzmann, 2018 gestorben, wäre dieses Jahr 100 geworden. Sein Film wird auf der am Donnerstag beginnenden Berlinale wieder gezeigt, und es fällt auf, dass auch andere Produktionen, die von Zivilisationsbrüchen handeln, oder vom Tod, den wir lieber verdrängen, Überlänge haben.

Zwei Beispiele nur: Julia Loktevs Dokumentarfilm „My Undesirable Friends“ über russische Journalistinnen, die Putin die Stirn bieten und nicht aufhören, unter den Bedingungen der Zensur Tatsachen zu verbreiten, bevor sie ins Exil gehen müssen: fünfeinhalb Stunden. Oder Philipp Dörings Direct-Cinema-Report „Palliativstation“ über die Unfassbarkeit des Todes und die Kostbarkeit des Lebens, wenn es zu Ende geht: vier Stunden.

Wahrheiten, die wir nicht hören, nicht sehen wollen, brauchen einen langen Atem, sie erfordern Geduld, Entschleunigung. „Das schlimmste Verbrechen bei der Herstellung eines dem Holocaust gewidmeten Werkes besteht darin, ihn als Vergangenheit zu betrachten“, schrieb Claude Lanzmann. Es geht nicht um Erinnerung, sondern um hier und jetzt.

„Shoah“ sei nur aus Gegenwart geschmiedet und die Vergangenheit scheine sich darin aufzulösen, weil die dem Film zugrunde liegende Ordnung dem Undenkbaren angehöre, so der Regisseur. Deshalb zeigt er kein Archivmaterial, sondern ausschließlich Interviews mit Überlebenden und Tätern.

Im Angesicht der Inhumanität und der Katastrophe von Gewalt und Tod verändert sich die Zeit. Sie vergeht nicht, sondern rotiert, dehnt sich, steht still. Nehmen wir sie uns. Nicht nur im Kino.

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