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Kolumne „Mehrwert“: Die Nebelhornisten von Georgien
Unter der Russifizierung Georgiens leiden auch die Kulturschaffenden. Bei den Protesten nach der Wahl spielen sie eine wichtige Rolle. Schließlich hat die Vielstimmigkeit hier eine uralte Tradition.

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Das Land ist tief gespalten, der reichste Mann mischt in der Politik mit, das Wahlergebnis schockiert die Kulturszene, und die Zukunft Europas entscheidet sich auch dort. Nein, es geht nicht um die USA, um Musk und Trump, sondern um die Wahlen in Georgien Ende Oktober. Am Samstag wurde das umstrittene Ergebnis offiziell bestätigt.
Während der Oligarch Bidzina Inavishvili mit „seiner“ Regierungspartei Georgischer Traum die Russifizierung des Landes betreibt, hofft die Bevölkerung zu 80 Prozent auf eine EU-Mitgliedschaft. Auf der letzten Montagsdemo in Tiflis gegen das manipulierte Wahlergebnis war auch Martin Roth vom Auswärtigen Ausschuss im Bundestag dabei, mit einer Delegation europäischer Amtskollegen. „Ihr seid erschöpft, frustriert, müde, aber gebt nicht auf, wir stehen euch bei“, sagte er. Aber ansonsten hat Europa gerade andere Probleme. Der EU-Beitrittsprozess liegt seit Sommer auf Eis.
Dummerweise geht es kaum anders, denn die politische Führung schränkt die Freiheitsrechte immer drastischer ein. Seit 2021 trocknet Kultusministerin Tea Tsulukiani die Kulturszene aus, entließ liberale Museumsdirektorinnen und Chefs von Literatur- und Filminstitutionen. Das internationale Tbilisi Filmfestival erhält keine öffentliche Förderung mehr – und findet Anfang Dezember trotzdem wieder statt. Viele Kulturschaffende boykottieren die staatlichen Institutionen und stellen keine Förderanträge mehr. Für ihre Haltung zahlen sie einen hohen Preis.
Die Techno-Szene gehört zu den Protagonisten der Proteste
Das im Frühjahr verabschiedete „Agentengesetz“ macht vor allem der Freien Szene zu schaffen. Es unterstellt NGOs, Medien und Kulturprojekten, die zu mehr als 20 Prozent mit ausländischen Geldern entstehen, sie betrieben Spionage – man kennt das aus Russland.
Die von der unabhängigen Plattform Mutant Radio am letzten Freitag organisierten Livemusik-Acts stehen hoffentlich nicht unter Verdacht, bloß weil das Goethe-Institut beteiligt ist. Die Plattform, die in Tiflis in einem früheren Umspannwerk Konzerte und Talks veranstaltet, gehört mit dem Technoclub Bassiani – dem Berghain der georgischen Hauptstadt – und überhaupt der Techno- und Undergroundszene zu den Protagonisten der Proteste.
Das britische Monatsmagazin „Prospect“ vergleicht ihre Underground-Sounds mit Nebelhörnern, die zu mächtig tönen, als dass sie überhört werden könnten. Die Hiphop- und Punkrock-Songs werden immer politischer.
Mitte September wurde auch noch das „Familienwerte“-Gesetz erlassen, es klingt ebenfalls nach Putin. Homo-Ehen, Geschlechtsangleichungen und sogenannte Propaganda für LGBTQ+-Belange sind jetzt verboten. Kurz nach der Verabschiedung wurde Kesaria Abramidze, prominente Transfrau, Schauspielerin und Transgender-Aktivistin, in ihrer Wohnung erstochen.
Die Menschen in Tiflis gehen weiter auf die Straße. Die Opposition, die Kultur, die Frauen, die Queeren und andere. Mehrstimmigkeit, Vielstimmigkeit hat Tradition in der Kaukasusrepublik: Georgiens uralter polyphoner Kirchengesang passte schon dem Zaren nicht, erst recht nicht den Sowjets. Der Gesang, tönerne Demokratie, hat sie alle überlebt.
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