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Der Berliner Autor Marko Martin.

© Anke Illing

Kultur in der DDR: „Viele Bücher hatten eine ästhetische Widerständigkeit“

Autor Marko Martin findet, dass viele Schriftstellerinen und Schriftsteller aus dem Osten zu Unrecht vergessen sind. Ein Gespräch über die Ursachen, die Stasi und Punk.

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Marko Martin wurde 1970 in Burgstädt in Sachsen geboren. Im Mai 1989 siedelte er in die BRD über. Sein aktuelles Buch heißt „Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens“ (Klett-Cotta). Martin wohnt in Berlin.

Herr Martin, Ihr neues Buch heißt ’Die verdrängte Zeit – Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens’. Was genau wird hier verdrängt und von wem?
Mir ging es darum, an Geschichten und Menschen zu erinnern. Und zwar nicht in einer auftrumpfenden oder gar anklägerischen Weise, sondern mit der Lust am Wiederentdecken und in der Hoffnung, dass sich die Neugier auf die Kulturen des Ostens auf den Leser überträgt.

Man hat aber schon den Eindruck, dass Sie den Menschen im Westen Deutschlands vorwerfen, einen zu engen Ausschnitt der DDR-Kultur wahrgenommen zu haben, wenn sie nur Christa Wolf und Uwe Johnson kennen.
Aus einem Vorwurf heraus schreibt man kein ganzes Buch. Es geht mir eher um Ergänzungen. Aber es stimmt, ich bin etwas skeptisch gegenüber einem westlichen Blick, der bis heute auf die großen Namen geeicht ist, auf Christa Wolf oder Heiner Müller.

Dabei scheinen mir etwa die Gedichte von Müllers Frau Inge um einiges interessanter und haltbarer als die eisengehämmerte Majuskel-Ästhetik ihres Mannes. Bei Inge Müller nämlich wird das fragile Individuum wieder ins Recht gesetzt. Ganz zu schweigen von den Büchern von Helga Maria Novak oder von den Gedichten von Sarah Kirsch. Auch diese enthalten eine Widerständigkeit, die nicht per se politisch ist, sondern vor allem ästhetisch.

Man könnte die Rezeption auch von der Nachfrageseite aus betrachten: Welche Bedürfnisse haben diejenigen Ost-Schriftsteller im Westen befriedigt, die im Westen gelesen wurden?
Vielleicht das westliche Bedürfnis, von einer Utopie zu lesen, die im schönsten Grau von Christa Wolf melancholisch umkreist wurde, ohne dass der Westleser in Gefahr geriet, in dieser DDR wirklich leben zu müssen. Das Gleiche galt für die einstmals so begeisterte Rezeption von Heiner Müller.

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Andererseits war oft zu hören, vermeintlich kritisch: diese muffige DDR. Ungleich seltener wurde im westlichen Kulturmilieu ausgesprochen, dass es sich um ein repressives System handelte, um ’deutsche Tradition’ im allerschlechtesten Sinn. Solch ostentatives Nichtwahrnehmen lässt tief blicken.

Sie konnten in der DDR keine höhere Schule besuchen, weil Sie nicht in der Freien Deutschen Jugend waren und den vormilitärischen Ausbildungsdienst verweigert haben. Sie verweigerten dann auch den Kriegsdienst; im Mai 1989 wurde schließlich Ihr Ausreiseantrag bewilligt; da waren Sie 18. Sie haben danach am Bodensee Ihr Abitur nachgeholt. Wie sah der literarische Kanon Ihrer Westschule aus?
Die waren relativ gut über den Osten informiert. Ein Freund erzählte mir von Uwe Johnson, den ich damals noch gar nicht kannte. Der Freund sagte zu mir: Du kommst doch aus diesem Land, wo es als Beruf einen ’Dispatcher’ gab , oder? Das Wort kommt vor in Johnsons ’Mutmaßungen über Jakob’.

In der Schule lasen wir Ulrich Plenzdorfs ’Die neuen Leiden des Jungen W.’, auch ein bisschen Christa Wolf. Doch andere, wie etwa Hans Joachim Schädlich, Erich Loest, Reiner Kunze oder Irmtraut Morgner? Leider Fehlanzeige. Immerhin aber gab es in der universitären Germanistik einen wahren ’DDR-Boom’.

Inge Müller, Schriftstellerin und Ehefrau von Heiner Müller, ist literarisch fast vergessen.
Inge Müller, Schriftstellerin und Ehefrau von Heiner Müller, ist literarisch fast vergessen.

© picture alliance

Sprechen wir über die Bedingungen künstlerischen Schaffens in der DDR. Es wurde oft in Andeutungen geschrieben, man drückte sich zwischen den Zeilen aus. Ist das auch ein Grund, warum manche nicht wahrgenommen werden – weil es für Außenstehende einfach schwer zu verstehen ist?
Möglich. So manche literarische Sprache in der DDR war eine gehobene Sklavensprache. Eine vorverständigte Gemeinschaft dachte (flüstert): ’Ja, ich weiß, was gemeint ist. Es ist von Troja die Rede, aber es ist partiell die DDR.’ Solch wisperndes Andeuten mag durchaus zu temporärer seelischer Stabilisierung beigetragen haben – und hat doch gleichzeitig etwas Verpupptes und Vermucktes.

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Aber auch der Biedermeier hatte ja einst für eine Weile seinen ästhetischen Reiz. Gerade deshalb wären die anderen Bücher wiederzuentdecken, die ungleich klarer waren, ohne dabei kunstlos oder didaktisch zu sein. Ich denke an Reiner Kunzes ’Die wunderbaren Jahre’, die auch heute noch poetisch funkeln. Oder an den freien Ton in Monika Marons Romandebüt ’Flugasche’.

Sie schreiben, dass auch Literatur vergessen wird, die weder dissidentisch noch systemtreu war. Welche denn?
Es ist faszinierend, wie viel damals als ein Dennoch und als ein Trotzdem entstanden ist. Ich denke etwa an die "Indianer"-Romane von Liselotte Welskopf-Henrich, die ungeheuer faszinierend waren – und eben nicht geschrieben von einem ’DDR-Karl-May’, sondern von einer Altertumswissenschaftlerin, die sich den Ureinwohnern Amerikas tatsächlich angenähert hat, die wirklich dort war. Auch die Verfilmungen der Defa sind absolut sehenswert; kitschfrei und ohne jeglichen kulturalistischen Bombast. So etwas hat Generationen von Menschen in der DDR geprägt.

Dass es daran kein Interesse gibt, liegt das vielleicht daran, dass im Westen sozialisierten Menschen das Verständnis für die Grauzonen, für die Ambivalenz des Lebens in der Diktatur fehlt? Sozusagen für das Trotzdem?
Das mag sein. Aber eine jüngere Generation Ostdeutscher tut aus meiner Sicht auch nicht viel dafür, so etwas auszuloten und zu zeigen. Viele heute Vierzigjährige schreiben DDR-Erinnerungsbücher. Aber ihre DDR ist die ihrer Vorpubertät. Da spürte man die Machtstrukturen noch nicht in ihrer ganzen Wucht.

Doch auch eine Auseinandersetzung mit den Osteltern hat bis heute nicht stattgefunden. Während Westdeutschland durch ’68 geprägt wurde, wird das Mitmachen von vielen aus der DDR von der nächsten Generation kaum hinterfragt. Liegt es womöglich daran, dass die Kinder ihre Eltern nach 89/90 als hilflos und schwach erlebt hatten, als Menschen, die sich neu sortieren mussten und denen man deshalb nicht mit Fragen zusätzlich zusetzen will?

Immerhin aber gab es drei Millionen SED-Mitglieder – und die Frage danach müsste ja auch gar nicht inquisitorisch sein. Man könnte ja einfach mal Neugier wagen: Warum seid ihr damals eingetreten? Stattdessen wird jetzt eine Art homogener leidender Volkskörper konstruiert.

Die Stasi spielte auch bei der Kulturproduktion mit. In Ihrem Buch beschreiben Sie das am Beispiel der Punkszene. Später mussten dann Mitglieder von Punkbands in ihrer Stasi-Akte lesen, dass Kollegen über sie berichtet hatten. Wie beurteilen Sie heute den öffentlichen Umgang damit?
Das lässt sich nicht generell beantworten. Deshalb versuche ich es ja anhand von Geschichten und individuellen Schicksalen. Da war etwa die absolut infame Stasi-Strategie, das Misstrauen schaffende Gerücht zu streuen, dieser oder jener Punk wäre erfolgreich angeworben worden. Oder man versprach Jugendlichen eine West-Gitarre oder sie nicht zu verhaften, um sie dann zu rekrutieren. Da gab es – nicht nur in der Punkszene – unendlich viele Graubereiche. Manche sagen heute: Nun ja, wir hatten eben mit dem Geheimdienst ’gedealt’ und ’mussten’ unsere Kumpels verraten. Wirklich?

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Gerade deshalb sollte man all die Millionen nicht vergessen, die nicht zur Stasi gegangen sind, die nicht in der SED waren, die oftmals gar nicht besonders mutig gewesen sind, aber doch einen ethischen Kompass besaßen. Das war die übergroße Mehrheit. Vor allem aber sollte man sich nicht von jenen lautstarken Kollaborateuren in die Irre führen lassen, die noch jetzt suggerieren, ihre eigene Mitläufergeschichte stelle typisches DDR-Verhalten dar und eine Kritik daran sei dann automatisch eine Abwertung von ’uns Ostlern’. Das ist mehr als nur Anmaßung, sondern geradezu eine Gewalttätigkeit: Noch einmal werden hier all jene, die damals mit der Diktatur nicht aktiv kollaboriert hatten, in Kollektivhaftung genommen.

In Ihrem Buch fragen Sie: War die DDR in sexuellen Dingen der offenere Staat? Ist das nun ein Mythos oder die Wahrheit?
Ich habe das bewusst in Frageform geschrieben. Aber natürlich: In einem Staat, in dem sonst nicht so viel passiert, was soll man da tun? So ging es in der DDR z.B. bei den "Brigadefeiern" der Betriebe oftmals schnell zur Sache. 

Ich finde es amüsant, wie viele Ostfrauen noch heute offenherzig davon berichten - mit einer Provokationsfreude auch gegenüber ihren westlich sozialisierten Altersgenossinnen, die mit feministischer Theorie aufgewachsen waren und nun angesichts solch beinahe rüde erinnerter weiblicher Selbstermächtigung à la DDR beträchtlich fremdeln. Auch von solchen Ostwest-Szenen erzählt mein Buch.

Die Schauspielerin Renate Krößner wurde mit berühmt mit dem Film "Solo Sunny".
Die Schauspielerin Renate Krößner wurde mit berühmt mit dem Film "Solo Sunny".

© Patrick Seeger/dpa

Spiegelt sich das aus Ihrer Sicht auch in der DDR-Kunst und Kultur?
Ich sollte aufpassen, jetzt nicht selbst zu pauschalisieren. (lacht.) Aber es gab so einen Typus der Kokett-Patenten, die vielleicht nicht Judith Butler oder nicht einmal Simone de Beauvoir gelesen hattte, sich aber dennoch von den großmäuligen Männern nie die Butter vom Brot nehmen ließ.

Zum Beispiel?
Ich denke zum Beispiel an Renate Krößner, an die Figur "Solo Sunny" aus dem gleichnamigen Film von 1980. Ich denke an die Frauen, die Katharina Thalbach verkörpert hat oder an Sängerinnen wie Uschi Brüning und Angelika Mann. Ich denke an deren rotzige Fröhlichkeit, an ihre plebejische Renitenz. Das ist doch etwas sehr Schönes, oder?

In der DDR war der Paragraf 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, schon früher abgeschafft. Hatte das Auswirkungen auf die Einstellung gegenüber Lesben und Schwulen?
Nicht unbedingt. Homosexualität war zwar schon 1968 offiziell entkriminalisiert worden. Aber der Konformitätsdruck blieb ebenso stark wie in der westdeutschen Provinz - mit dem entscheidenden Unterschied,  dass man im Osten eben nicht in Orte wie Köln, Frankfurt oder Hamburg aus - und aufbrechen konnte.

Der erste DDR-Film, der Homosexualität thematisierte, war "Coming Out" von Heiner Carow und hatte ironischerweise just in der Nacht des 9. November 1989 seine Weltpremiere im Ostberliner Kino International. Tatsächlich war die Szene auch durchdrungen von Stasispitzeln, von Leuten, die erpressbar waren. Im Kitkat Club war ich vor ein paar Jahren einmal Zeuge davon geworden, wie zwei aufeinandertrafen, von denen der eine den anderen einst bespitzelt hatte. Fast wäre es zur Schlägerei gekommen - auch das eine in die Gegenwart fortwirkende "Ostgeschichte".

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Wenn dagegen mich jemand nach meinem Coming Out fragt, nenne ich den Spätmittag des 19. Mai 1989 - das nämlich war die Stunde, als der Reichsbahn-Zug endlich den DDR-Grenzübergang Gerstungen hinter sich gelassen hatte. Das war seinerzeit für mich das Wichtigste, alles andere würde sich dann schon fügen...

Es gibt eine Reihe von in der DDR sozialisierten Schriftstellerinnen und Schriftstellern - Monika Maron, Uwe Tellkamp, Birk Meinhardt, die derzeit einen Mangel an Meinungsfreiheit beklagen. Wie blicken Sie darauf, wie erklären Sie das?
Dafür, dass sie das Gefühl haben, nicht sagen zu können, was sie wollen, sind sie doch absolut präsent. Und nahezu jeder spricht darüber, dass sie angeblich nicht sagen können, was sie sagen möchten.

Hat das möglicherweise Gründe in der DDR-Biografie? Dass sie allergischer reagieren auf empfundene Einschränkungen?
Es hat etwas irritierend Bequemes, bei fast jedem wahrgenommenem Missstand in einer Demokratie zu dekretieren: Is ja wie früher. Solche Analogien verharmlosen die Diktatur.

Und jetzt – was machen wir mit der Feststellung, dass vieles, was Sie als wertvolle DDR-Kultur sehen, nicht mehr gelesen, gehört wird? Müssen wir die Curricula in den Schulen ändern?
Ich habe keine politische Agenda. Ich habe das getan, was ich tun kann – und deshalb ein Buch geschrieben. Dennoch. Ich denke, dass wir zum Beispiel aus „Das Ende einer Feigheit“ von Jürgen Fuchs oder aus „Lüg Vaterland“ von Freya Klier, in dem sie das DDR-Bildungssystem beschreibt, Entscheidendes über fortwirkende autoritäre Mentalitäten lernen könnten.

An solche Autoren und Bücher zu erinnern, ist mir wichtig. Nicht als sinnlosen Akt der Wiedergutmachung, sondern in einem wohlverstandenen zivilgesellschaftlichen Eigeninteresse. Und wer weiß, vielleicht ließen sich ja auch an den Schulen ein paar engagierte Lehrer und Lehrerinnen für eine solche Vermittlung gewinnen?

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