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Die Verkrempelung der Welt: Wie uns der vermeintliche Fortschritt über den Kopf wächst
Übergriffige Kaffeekocher, dysfunktionale Küchenherde, eigenwillige Spülmaschinen: Gabriel Yoran schreibt in seinem Sachbuch über Alltagsprodukte, die den Nutzer zum Verzweifeln bringen.
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Im Werkbundarchiv stehen Vitrinen, in denen vorbildliches Design präsentiert wird. Bugholzstühle von Thonet, wuchtige Jugendstilsessel, Stapelstühle aus der DDR. Daneben stromlinienförmige Nachkriegs-Rasierapparate und in Spritztechnik dekorierte Krüge.
In einer Vitrine findet sich „Hurrakitsch“: ein Hindenburg-Teller, eine Blechdose mit dem Porträt von Königin Elisabeth II. und eine Kamala-Harris-Tasse mit dem Aufdruck „FORWARD“. Politischer „Bad Taste“ (schlechter Geschmack).
Das Berliner Museum der Dinge, das zum Werkbund gehört, war der ideale Ort für die Buchpremiere von Gabriel Yorans Essay „Die Verkrempelung der Welt“. Yoran bezieht sich in seiner Design-Studie auf den 1907 von Künstlern, Architekten und Unternehmern gegründeten Verband und dessen Utopie, mit industriell hergestellten Dingen die Welt schöner, vielleicht sogar besser zu machen.
Und Yoran geht auch ausführlich auf Kitsch und schlechten Geschmack ein. Krempel ist für ihn dabei mehr als die außer Gebrauch geratenen Gegenstände, die sich in Schrankecken oder Keller sammeln. Sein Blick richtet sich vielmehr auf Objekte, die hergestellt werden, um ihre Vorläufer abzulösen, aber nicht besser sind als diese, sondern bloß komplizierter und teurer.
„Ob es Sparmaßen sind, die sich in schlechterer Materialqualität äußern“, schreibt Yoran, „oder eine freidrehende Fortschrittssimulation, die Produkten unnötige Komplexität hinzufügt: Je verzweifelter das Vorgängerprodukt übertrumpft werden muss, desto Krempel.“
Streitschrift eines Design-Forschers
Gabriel Yoran, 1978 in Frankfurt am Main geboren und heute in Berlin lebend, ist promovierter Gesellschaftskommunikator und Design-Forscher. Den Impuls für seine Krempel-Kunde, eine Streitschrift im Gewand der Kulturgeschichte, gab persönlicher Verdruss. Er hatte einen neuen Herd gekauft und verzweifelte daran.

© IMAGO/Funke Foto Services/RetoxKlar
Das AEG-Gerät besaß anders als dessen Vorläufer in Yorans Küche keine Drehsteller an der Frontseite, gesteuert wurde es von einem „futzeligen“ Touchfeld. Dieses Interface reagierte erst beim dritten Anlauf, war direkt neben den Töpfen platziert und schaltete sich bei Berührung mit Wasser oder den Töpfen piepsend ab. Außerdem stand auf ihm eine rätselhafte Zeichenfolge: „0135 810 14A“.
Als der Autor ein Foto seines Herds auf Twitter postete, bekam er siebentausend Likes und wusste, dass er „einer Sache auf der Spur“ war. Yoran spricht von einer „merkwürdigen Gleichzeitigkeit von Fort- und Rückschritt“. Während die Primärfunktion – beim Herd das Erhitzen von Speisen – besser erfüllt wird, verlangt das Produkt in der Sekundärfunktion – der Handhabung – eine „hakelige, unnötig umständliche Befassung mit sich“. Der Medienphilosoph Vilém Flusser bemerkte bereits 1993: Die Dinge bedienen uns nicht, sondern „wollen bedient werden“.
Auch bei Spül- und Waschmaschinen ist es ähnlich. Sie verbrauchen weniger Strom und Wasser, verfügen aber über immer mehr Programme, die niemand braucht. Heutige Heimbeleuchtungs-LEDs sind den alten Glühbirnen überlegen. Sie funktionieren per Fernbedienung aus dem Smartphone, verlangen aber, dass Gäste eine App installieren, um das Klolicht einzuschalten.
Je verzweifelter das Vorgängerprodukt übertrumpft werden muss, desto Krempel.
Gabriel Yoran, Designforscher und Start-Up-Gründer
Und aus den Autos verschwinden die Radios mit Drehknöpfen. Ersetzt werden sie durch Geräte mit Touchscreens, bei denen von der Lautstärke bis zur Senderwahl alle Funktionen per Handauflegen gesteuert werden müssen, was während der Fahrt nicht nur anstrengend, sondern auch gefährlich ist.
Yoran zählt zu einem der letzten Jahrgänge der Generation X. Das Lebensgefühl dieser Alterskohorte wechselte zwischen Null-Bock-Stimmung und Digital-Euphorie. Mit 16, 17 Jahren wollte er ein Unternehmen gründen, scheiterte aber an der Bürokratie. Er besuchte eine Wahlkampfveranstaltung mit Guido Westerwelle, der im Fernsehen etwas gesagt hatte, was ihm gefiel, und entwickelte sich zum „FDP-Schnösel“.
„Start Me Up“ als Befehl
In dieser Zeit stieg das Betriebssystem Windows 95 zum erfolgreichsten Personal-Computer-Produkt der Welt auf. Das Microsoft-Programm öffnete sich mit einem Song der Rolling Stones, der wie ein Befehl klang: „Start Me Up“. Yoran gründete mit zwei Freunden einen Software-Start-up, das sehr schnell sehr groß wurde. „Zukunft war unsere Kirche“, erinnert sich Yoran.
Zur Jahrtausendwende schien das „Ende der Geschichte“ erreicht, wie der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama prophezeit hatte. Der Fortschritt galt als unaufhaltbar, das World Wide Web wirkte wie die Fortsetzung der Aufklärung mit digitalen Mitteln. Wissen für alle, jederzeit verfügbar.
Spätestens, als 2001 zwei von islamistischen Terroristen gekaperte Passagierflugzeuge in den Türmen des New Yorker World Trade Centers explodieren, bekam der Optimismus einen Dämpfer. Der Kapitalismus hatte sich als verwundbar gezeigt, ein neuer Krieg begann.
Yoran unterlegt seine Forschung mit Anekdoten aus seiner Biografie. Sein Buch beruht wie schon dessen Vorläufer „Schleichwege zur Klassik“ auf Texten, die er im Online-Magazin „Krautreporter“ veröffentlichte. Die Erfahrungen mit einem Kaffeeautomaten in seinem Büro beschreibt er in einem Kapitel, das „Sie haben Geld, sie haben Zeit und brauchen dringend ein Hobby“ heißt.
Wünsche von Geräten
„Ja, ich wollte Kaffee von der Maschine, aber sie wollte immer viel mehr von mir“, schreibt Yoran. Bohnen mussten nachgelegt, der Wassertank gefüllt, die Tresterschublade entleert werden. Wenn alle Wünsche des Displays befolgt worden waren, startete ein Reinigungsprogramm, das das Gerät durchspülte.
Der Siemens-Kaffeevollautomat EQ900 - Kostenpunkt: 1500 Euro – ist für Yoran ein Paradebeispiel für „Premiumkrempel“. Inzwischen lässt er sich per App steuern, „bequem vom Sofa aus“, wie die Siemens-Werbung verspricht. Warum nur? Um den vollen Kaffeebecher zu holen, muss man sowieso aufstehen.
Yorans Buch ist genauso klug wie witzig, ausgehend von Produkten springt es zu Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte. Hermann Hesse, der zu den Gründern des Werkbunds gehörte, beschwor 1912 dessen Ziele mit pathetischen Worten: „Es handelt sich um den Geschmack als moralische Angelegenheit, aber Moral ist hier gleichbedeutend mit Volkswirtschaft.“
In erster Linie ging es dem Verband darum, das Image der „Made in Germany“-Erzeugnisse aufzubessern. Wilhelminische Waren galten in der Welt als minderwertig, billig hergestellt und schlecht raubkopiert. So wie man es in der Gegenwart lange Zeit Handelsgütern aus China nachsagte. Doch inzwischen hat die chinesische Autoproduktion die deutsche überholt.
Die Werkbündler hatten revolutionäre Ideen, sie wollten Massenproduktion, Nachhaltigkeit und Schönheit miteinander verknüpfen. Aus heutiger Sicht wirke das „rührend naiv“, so Yoran. Trotzdem leben diese Visionen weiter, sie können immer noch Impulse für Designer, Unternehmerinnen und Konsumierende setzen.
Für Gabriel Yoran bleibt ein dauerhaft gutes Produkt ein „Wunder“. Eigentlich dürfte es nicht existieren. Denn der Kapitalismus verlangt, immer wieder neue und nicht zwingend bessere Dinge hervorzubringen. Und viele Lebensentwürfe sind nur noch „entlang von Statussymbolen vorstellbar“. Vielleicht braucht es weniger Luxus und mehr Liebe.
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