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Diese Metropole ist ununterbrochen im Wandel. Die Aufnahme entstand 2016/2017 in Istanbul.

© Maria Sewcz/VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Prag, Istanbul, Rom: Maria Sewcz fotografiert Städte als Spiegel der Zeit

Seit vierzig Jahren setzt sich die Berliner Fotografin Maria Sewcz mit Städten auseinander. Das Haus am Kleistpark widmet ihr nun eine große Ausstellung.

Absurd, was sich Bessergestellte für Behausungen bauen. Ein metallverkleideter Betonwürfel mit bodentiefen Schießscharten-Fenstern. Drumherum Rollrasen, ein hellblau gleißender Pool, Palmen mit Plastikhauben. Das Ganze eingehegt durch einen mit Flechtwerk dekorierten Metallzaun, den Stacheldrahtrollen bekrönen. Wie ein Haus am linken Bildrand verrät, macht sich diese frisch erbaute „Gated Community“ in einem einst normalen Wohnviertel von Istanbul breit. Gentrifizierung – scheint Maria Sewczs an eine Holzwand genageltes Großformat zu sagen – gleicht Stadtentwicklung mit einem Brett vorm Kopf.

Doch so plakativ funktioniert Maria Sewczs seit 40 Jahren andauernde Auseinandersetzung mit Urbanität nicht. Die schmale, ernsthafte Frau, die das Beschriften einzelner Arbeiten ebenso scheut wie wortreiche Werkerklärungen, hat mit der selbst entwickelten Rauminstallation der Ausstellung „ÜberStädte“ im Haus am Kleistpark Subtileres im Sinn.

„Istanbul überschreibt sich alle 30 Jahre neu“, sagt sie. Großflächige Baustellen verstellen die Stadt. Das will sie nicht nur zeigen, sondern auch spürbar machen. „Also beginne ich mit einer Barriere, die den Körper manipuliert, nach links auszuweichen.“

Alle Istanbul-Bilder, die zwischen dem Putschversuch im Juli 2016 und dem Verfassungsreferendum im April 2017 entstanden sind, hängen – anders als die von London, Prag oder Leningrad – an temporären Wänden. Um die Vorläufigkeit der Ansichten von Fassaden, Treppen, Mauern, Straßenszenen in eigenwilligen Perspektiven und Details zu betonen. Anordnung und Formate hatte sie vorher schon im Kopf. „Die Bilder sagen mir, wie ich sie hängen soll. Darauf muss ich dann nur noch hören.“

Ansichten, Klänge, Gerüche – in der Stadt nehme man nur einen Bruchteil der Dinge wahr, die gleichzeitig geschehen, erläutert Maria Sewcz. Das Bewusstsein dieser punktuellen Wahrnehmung schärft sie mit ihren „visuellen Notizen“, wie sie die Fotos nennt. Das einzelne Bild habe kein Recht auf Existenz, sagt sie, es gehe vielmehr um die soziale Organisation von Fotografie. „Der Stadtraum entsteht in der fein abgestimmten Abfolge der Bilder.“

Städte sind Zentrifugen der Moderne. Szene in Prag, 1980.
Städte sind Zentrifugen der Moderne. Szene in Prag, 1980.

© Maria Sewcz

Beim Versuch dessen Zeichen zu lesen, bleiben Missverständnisse nicht aus. Erst auf den zweiten Blick begreift man, dass die Frau in der Bude, die hinter einem Vorhang von Perlenketten verschwindet, Gebetsschnüre verkauft. Und was zeigt das lustige Foto mit den niedrigen Porzellanbecken und Plastikstühlchen davor – eine Kita? Maria Sewcz schüttelt den Kopf. „Das verstehen westeuropäische Augen nicht sofort.“

Sie erzeugt gern Irritationen durch Perspektiven. Das Foto zeigt kein Kinderbadezimmer, sondern den Waschraum einer Moschee.

Die religiöse Geschichte ist ihren spröden Istanbul-Ansichten ebenso eingewoben wie die politische und kulturelle. Auf einem mittelgroßen Panorama rostet neben einem alten Gasometer eine Atatürk-Büste vor sich hin.

Und das großartig beiläufige Porträt einer Mädchengruppe in Schuluniformen spricht von der brüchig werdenden, aber immer noch vorhandenen Toleranz der Lebensformen. Die meisten Mädchen tragen dunkelblaue Basecaps, zwei jedoch ein dunkelblaues, eher nachlässig gebundenes Kopftuch.

Auf der Suche nach Konflikten

Den Istanbul-Aufenthalt in politischen Zeiten, der auch bei der Arbeit einer Straßenfotografin Mut erfordert, hat die Senatsverwaltung für Kultur Maria Swecz ermöglicht. Und ebenso das mit einem Aufsatz der Dichterin Monika Rinck komplettierte Fotobuch unterstützt.

Die teils in konzentriertem Schwarzweiß, teils in dynamischer Farbigkeit gehaltene Werkgruppe zu London finanziert Sewcz selber. „Gerade habe ich wieder gebucht, in zehn Tagen soll es losgehen.“ Das erste Mal seit dem Lockdown, der für sie in die Austellungsvorbereitungszeit fiel.

[Haus am Kleistpark, bis 27. September, Di-So 11 - 18 Uhr. Am Donnerstag ist Maria Sewcz von 15 bis 18 Uhr anwesend.]

In einem wunderschönen großformatigen Folianten ist außerdem ihre anlässlich eines Aufenthalts in der Villa Massimo erfolgte Erkundung von Rom zu sehen. Inklusive visueller Tiefenbohrungen in die etruskischen, griechischen und ganz gegenwärtigen Schichten der auf sieben Hügeln angelegten Stadt.

Ein zweiter Foliant „JETZT, BERLIN“ (2013 - 16) und das Fotobuch „inter esse“ (1985 - 87) dokumentieren zwei von diversen Werkgruppen, die Maria Sewcz seit den achtziger Jahren als Chronistin Berlins ausweisen. Alexanderplatz, Jugendkultur, später Clubkultur, Obdachlosigkeit, Migration, Streetart, Schloss-Baustelle – die Fotoessayistin setzt Momentaufnahmen zu einem Spiegel der Zeit zusammen.

Blick für Details. Maria Sewcz im Selbstporträt.
Blick für Details. Maria Sewcz im Selbstporträt.

© Maria Sewcz

Genau das ist der Grund, warum sich die 1960 in Schwerin geborene Maria Sewcz, die seit Jahrzehnten in Prenzlauer Berg lebt, so stark mit ihnen auseinandersetzt. „Ich bin nicht auf der Suche nach Idyllen, sondern nach Konflikten. Ich zeige die Eingriffe der Zivilisation.“

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Sicher seien die auch in Landschaften zu finden, nickt sie, doch als Zentrifugen der Beschleunigung wirkten sie in der Moderne die Städte. Dass sie deren Strukturen und Texturen auch schon als Studentin der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig untersucht hat, zeigen die Kabinette an der linken und rechten Stirnseite der Ausstellungsetage.

Dort sind – ausnahmsweise museal gerahmt und hinter Glas – Vintageprints aus den Jahren 1979 bis 1985 zu sehen. Die in Schwarzweiß abgebildeten abgeschabten Fassaden, verschneiten Plattenbausiedlungen, Straßenmusikanten, Passanten mit Pelzmützen und Frauen mit Kittelschürzen verströmen die Zeitlosigkeit des einstigen Ostblocks.

Und sie zeigen, dass Maria Sewcz, die heute als Dozentin an der Ostkreuzschule für Fotografie Bildgestaltung lehrt, mit 20 deutlich erkennbar von Fotografen wie André Kertész, Henri Cartier-Bresson und ihrem Leipziger Lehrer Arno Fischer beeinflusst war.

Was man braucht, um Kunst zu machen

Mitte der achtziger Jahre legt sich das. Die eigene Handschrift jenseits des wohlkomponierten Bildes bildet sich heraus. Die Sujets und Bildausschnitte werden individueller. Die Fotografin kombiniert Szenen, Panoramen, Details zu Fotoessays, in denen die Bilder miteinander zu sprechen scheinen. In denen Leerstellen und offene Fragen wohnen. Und Schönheiten im Hässlichen treiben. So wie der im Türkis des Bosporus schwebende, schier unendliche Schwarm transparenter Quallen, den Maria Sewcz mit weißer Gischt kontrastiert.

„Was braucht man, um Kunst zu machen?“, fragt Monika Rinck in ihrem in der Ausstellung als Soundcollage anhörbaren Instanbul-Text. „Raum braucht man, und Zeit. Ferner werden benötigt: Schichten, Bögen, Kurven, Splitter, Wände, Pflanzen, Parkas…“. Oder das blaue Paillettenkleid, das ein im Keller ansässiger Händler neben zwei pinke Rüschenröcke an die als Auslage fungierende Kellerklappe gehängt hat. So schimmert nur Glamour, der aus der Armut kommt.

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