
© Studio Michael Müller, Berlin. Foto: Mathias Schormann
Michael Müller in der St. Matthäus-Kirche: Bilder aus Birkenau
Die Auseinandersetzung des deutsch-britischen Künstlers mit Gerhard Richter ist eine Kampfansage - allerdings eine mit Respekt.
Stand:
Untergeschoss Neue Nationalgalerie. Suche nach dem zentralen Werk der Schau, nach Gerhard Richters Birkenau-Zyklus von 2014. Der Raum ist eng, die vier großformatigen Bilder werden in der gegenüberliegenden Spiegelwand reflektiert. Im Idealfall schaut sich der Betrachter beim Betrachten zu und lernt, dass auch er Teil des Geschehens ist.
Wir sehen die Originale, nicht die vier digital auf Aluminiumplatten gedruckten Reproduktionen aus dem Reichstagsgebäude. Man kennt und erkennt sie, seit ihrem Entstehen werden sie als Ikonen der deutschen Vergangenheitsbewältigung gehandelt und gepriesen.
Der informierte Betrachter weiß, dass dem Richter-Zyklus vier Fotografien zugrunde liegen, von später ermordeten Häftlingen eines Sonderkommandos aufgenommen und aus dem Konzentrationslager herausgeschmuggelt wurden. Sie zeigen eine Gruppe nackter Frauen auf dem Weg in die Gaskammern, Häftlinge beim Verbrennen von Leichen, Bruchstücke eines Waldes. Die Fotos sind ein einmaliges, erschütterndes Zeugnis vom „Alltag“ in Auschwitz.
Malerei als moralische Handlung
Wirklich bekannt wurden diese Bilder hierzulande erst 2008 durch die Übersetzung von Georges-Didi Hubermans Buch „Bilder trotz allem“. Seither wird immer wieder angezweifelt, ob es moralisch vertretbar sei, sie als Ausstellungsstücke zu objektivieren.
Für Gerhard Richter ist Malerei eine moralische Handlung, der Versuch, „sich ein Bild zu machen von dem, was los ist“. Mit dieser Einstellung hat er die Erfahrungen seiner Familie im Nationalsozialismus immer wieder überzeugend umgesetzt. Jedoch misslang es, die vier Fotos aus Birkenau auf ähnliche Weise anzugehen: „Ich konnte nicht“, kommentierte er seinen Versuch angesichts der Wahrhaftigkeit des Gezeigten. Er konnte sie nicht „abmalen“ und verwischen, und wer das erste Kapitel von Hubermans Studie durchsteht, weiß, was das bedeutet.
Richter entscheidet sich aber nicht für den Verzicht auf das Bild, sondern für ein anderes Verfahren. Er verdeckt die kopierten Fotos mit Schichten von Farben und geht mit dem Rakel über sie hinweg, um dem Zufall das letzte Wort zu überlassen. Dieses Werkzeug presst das Grauen des Holocaust buchstäblich in einer Art Edelsteinbestattung auf die Leinwände, wo es von den Wänden herabfließt, in ascheregengrau, rot, dunklem Krapp und giftgrün. Allein das Wort ‚Rakel‘ (auch ‚Richtscheit‘) ist ein Angriff von stahlharter Materie auf Organisches und versinnbildlicht die Vergewaltigung der Farben durch gnadenloses Einebnen.
Auch der deutsch-britische Künstler Michael Müller, Jahrgang 1970, setzte sich ab 2012 mit Hubermans Buch auseinander. Auf Einladung des Würzburger Museums Kulturspeicher hat er vor Kurzem eine Ausstellung mit dem Titel „Die Errettung des Bösen“ kuratiert, in der er Nazi-Kunst aus dem Depot des Museums, „entartete“ und zeitgenössische Kunst gegeneinander in Stellung brachte. Der Titel wäre leicht misszuverstehen, wenn nicht im Vordergrund stünde, dass ‚Täter‘, auch wenn sie Künstler sind, dem Übel einen Namen geben und sich ihrer Verantwortung stellen sollten.
Es entspricht Müllers Drang zum Überschreiten von Wahrnehmungsmechanismen, dass der Schluss- und Höhepunkt dieser Würzburger Inszenierung eine Auseinandersetzung mit Richters Birkenau-Zyklus ist. Müller nennt seinen Kommentar eine „Dekonstruktion“. Er bildet die Farbschichten nach, legt sie frei und stellt sie in Beziehung zu den anderen Werken dieser Jahre, immer mit der Frage im Hintergrund, ob das Übermalen der Fotos nicht einer „Auslöschung“ des Geschehens aus ästhetischen Gründen gleichkommt.
Die Kunstkritik bringt bislang nur verdruckst zum Ausdruck, dass Müller, der gern auf die Mythologie der Griechen zurückgreift, hier im Einvernehmen mit den Staatlichen Museen eine ödipale Situation schafft. „Ich schätze Gerhard Richter sehr“, urteilt er über den älteren Kollegen und nimmt es dennoch mit ihm auf, auch wenn seine Dekonstruktion als (respektvolle) Kampfansage verstanden werden kann. Müllers Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem Interpretationsspektrum dessen, was Empathie ausmacht, begann Jahre vor der Präsentation des Zyklus.
Müller wird in Berlin von der Galerie Thomas Schulte vertreten. Die Sammlung Wemhöner zeigte 2021 seine „Schwierige(n) Bilder“, und spätestens seit der Einzelausstellung im Frankfurter Städel, die im Januar zu Ende ging, ist Müller aus der internationalen Kunstszene nicht mehr wegzudenken. Unter dem Titel „Der geschenkte Tag“ folgt er dem Mythos von Castor und Polydeukes und schickt den Betrachter in einem raumgreifenden Panorama auf die Reise vom Himmel zur Hölle und zurück.
„Kunst kann keinen Ersatz für Leiden schaffen. Wir können immer nur Verhältnisse herstellen“, sagt Müller. Sicherlich würde Gerhard Richter zustimmen. Gleichwohl hätte man sich dafür entscheiden können, das Größenverhältnis zwischen den KZ-Fotografien, die pflichtbewusst neben dem sie erdrückenden Zyklus angebracht sind, umzukehren. Wer es nicht besser weiß, geht an ihnen achtlos vorüber und versucht, in den Abstraktionen Birkenau herauszulesen.
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