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Nachruf auf Marcel Ophüls: Chronist der deutschen Verbrechen
Der Regisseur Marcel Ophüls hat in seinen Dokumentarfilmen die Schuld an der europäischen Judenvernichtung aufgearbeitet. Jetzt ist er mit 97 Jahren in Frankreich gestorben.
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Einen Nestbeschmutzer haben sie ihn genannt. Dabei hatte der Regisseur Marcel Ophüls nie die Absicht, seine Wahlheimat Frankreich zu verurteilen. Sein Dokumentarfilm „Das Haus nebenan“ war nicht mehr als das, was der Untertitel der deutschen Kinoversion nahelegt: eine „Chronik einer französischen Stadt im Krieg“.
In Frankreich wurde Ophüls’ wichtigster Film, der ihm 1970 eine Oscar-Nominierung einbrachte und ihn neben Claude Lanzmann als wichtigsten Chronisten der Judenvernichtung im europäischen Kino etablierte, feindselig aufgenommen. Erst 1981 lief er erstmals im staatlichen Fernsehen.
Mit dem viereinhalbstündigen „Das Haus nebenan“ widerlegte Ophüls gründlich den französischen Mythos des Widerstands gegen die deutschen Besatzer. Er interviewte für seinen Film die Bewohner der kleinen Industriestadt Clermont-Ferrand, Lehrer, Bauern, Geschäftsleute, zu ihren Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs.
Viele behaupteten, heimlich Teil des Widerstandsnetzwerks gewesen zu sein; niemand wollte gesehen haben, was mit den jüdischen Bewohnern geschehen war. Ophüls sprach auch mit Pierre Mendès France, dem späteren französischen Außenminister, der dem Vichy-Regime entkommen war, und dem berüchtigten Journalisten Christian de la Mazière, der mit der Waffen-SS gekämpft hatte.
„Das Haus nebenan“ war keine Anklage. Niemand, so Ophüls, könne ein Leben unter dem NS-Regime nachvollziehen. Seine Frau sei Deutsche und ebenfalls in der Hitler-Jugend gewesen, erzählte er in den 1980er Jahren. „Ich glaube nicht an eine Kollektivschuld.“ Sein Leben widmete er der Aufarbeitung der individuellen Schuld an den Nazi-Verbrechen.
Er selbst war 1927 in Frankfurt am Main als Sohn des berühmten Regisseurs Max Ophüls geboren worden, die jüdische Familie war über Frankreich in die USA geflohen.
Ich glaube nicht an eine Kollektivschuld.
Marcel Ophüls, Regisseur
1952 ging Marcel Ophüls zurück nach Frankreich und trat in die Fußstapfen des Vaters – blieb aber in dessen übermächtigem Schatten. Nach der Krimikomödie „Heißes Pflaster“ (1963) mit Jean-Paul Belmondo und Jeanne Moreau begann er sich näher mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Ein gebürtiger Deutscher mit amerikanisch-französischer Staatsbürgerschaft in einem Land, dessen Bevölkerung sich immer noch als Opfer des Nazi-Terrors bezeichnete.
Sein erster Dokumentarfilm „Hundert Jahre ohne Krieg“ (1967) kritisierte Chamberlains Appeasement-Politik und das „Münchner Abkommen“. Schon da bediente er sich vieler Stilmittel seiner späteren Arbeiten.
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Mit dem Welterfolg „Das Haus nebenan“ begann in Frankreich eine Phase der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im Zweiten Weltkrieg. 1970 drehte Ophüls „The Harvest of My Lai“ über die amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam, doch er kehrte immer wieder zu den Kriegsverbrechen der Deutschen zurück.
Zwischen 1973 und 1976 entstand „The Memory of Justice“ über die Nürnberger Prozesse, gefolgt von seinem zweiten einflussreichen Dokumentarfilm. „Hôtel Terminus“ (1988) über den Prozess gegen den Gestapo-Kommandanten Klaus Barbie, bekannt als „Schlächter von Lyon“, brachte ihm 1989 einen Oscar ein.
Auch wenn Barbie im Film selbst nicht zu Wort kommt – er erschien nicht vor Gericht – gelingt Ophüls mit „Hôtel Terminus“ in Gesprächen mit Jugendfreunden, Nachbarn, Opfern und Tätern eine komplexe Reflexion über Verdrängung, Schuld und die Unmenschlichkeit des NS-Regimes.
In Ophüls’ Filmen schimmerte immer auch die Auseinandersetzung mit der eigenen komplizierten Biografie durch. Diese zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass er sich bis zu seinem Tod – und trotz der Verbrechen seiner Landsleute – als Deutscher verstand. Am Sonnabend ist Marcel Ophüls im Alter von 97 Jahren in seiner französischen Wahlheimat gestorben.
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