zum Hauptinhalt
Die österreichische Schriftstellerin Natascha Gangl

© dpa/Hans Klaus Techt

Komposition mit Dialekt: Natascha Gangl gewinnt Ingeborg-Bachmann-Preis

Die österreichische Schriftstellerin Natascha Gangl erhält in Klagenfurt den mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis. Der Berliner Autor Boris Schumatzky wird Zweiter.

Stand:

Am Ende wurde bei diesem Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt alles gut. Es las als letzter des 14-köpfigen Teilnehmer- und Teilnehmerinnenfeldes der 1965 in Moskau geborene Berliner Journalist und Schriftsteller Boris Schumatzky, einen Text mit dem Titel „Kindheitsbenzin“, und schon währenddessen hatte man den Eindruck, in diesem Moment eine der besten, wenn nicht die beste Geschichte des Wettbewerbs zu hören und zu lesen, eine Geschichte fast ohne Makel. So empfand es auch die Jury, die „Kindheitsbenzin“ einhellig lobte. „Für mich der interessanteste und vermutlich beste Text in diesem Jahr“, so die Jurorin Mara Delius.

Berliner Boris Schumatzky erhält Deutschlandfunk-Preis

Doch „Kindheitsbenzin“ wurde am Sonntagfrüh nicht zum besten Text gekürt, sondern zum zweitbesten: Schumatzky erhielt den mit 10.000 Euro dotierten Deutschlandfunk-Preis. Denn schon am zweiten Lesetag hatte die 39 Jahre alte österreichische Autorin Natascha Gangl mit ihrem Beitrag Begeisterung ausgelöst.

Gangl offenbarte, dass bei diesem Wettbewerb Lesung und Text zusammengehören. Ihre Performance und Stimme, ihre Komposition mehrerer Stimmen war mindestens so wichtig wie der Inhalt dieser Geschichte. Weshalb sie nicht nur den mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, sondern auch den Publikumspreis, der mit 7000 Euro dotiert ist.

„Da Sta“, was im Dialekt Stein oder Fels bedeutet, handelt von der Ermordung von 48 Juden in der slowenisch-ungarisch-österreichische Grenzregion Südoststeiermark und wie sich die Erzählerin auf die Spur der Tat macht und die Erinnerung daran in Form eines Gedenksteins. Bei dieser Erkundung sprechen die Einheimischen sie in ihrem Dialekt an. Beispielsweise wird sie gefragt: „We-In-I-Iudn?“, beim zweiten Hinhören: „Wein-Inta-Wiu-Sdn-Do“. Man kann also missverstehen: „Wegen der Juden?“, und eigentlich gefragt wurde: „Wen interviewst denn da?“. Auf diese Weise spielt Gangl auf vielerlei Ebenen mit der Sprache.

Man muss sich beim Lesen im stillen Kämmerlein sehr auf Gangls Text einlassen, der wie ein Langgedicht erscheint, dabei zulassen, das eine oder andere nicht zu verstehen. Belohnt aber wird man mit einer hohen Intensität und verschiedensten Bedeutungsräumen.

Doch auch Boris Schumatzky geht es in seinem Text um die Komplexität der Sprache und ihre Konnotationen. Er erzählt von einer Kindheit im sowjetischen Moskau und gleichermaßen von Überlegungen, seine kranke Mutter im Moskau der Gegenwart zu besuchen. Diese Überlegungen sind rein theoretischer Natur und werden im Konjunktiv geäußert, sie bleiben auf der Textebene: „So schreibe ich nur, dass ich fliege. Ich schreibe diesen deutschen Satz in meinem Büro in Berlin und sage auf Russisch ,Guten Tag’ zu einer Frau, die neben mir in der Aeroflot-Maschine nach Moskau sitzt.“

Ich schreibe deutsche Prosa, in die ich meine Wahrheit übersetze, oder ich scheitere.

Boris Schumatzky in „Kindheitsbenzin“

Gekonnt und bei den Übergängen fast unmerklich verbindet Schumatzky Kindheitserinnerungen und die russische Gegenwart, in der die Mutter lebt. Das macht er in einer gelenkigen Sprache, die selbst immer wieder zum Stoff seiner Geschichte wird, mit Referenzen an Nabokov und vor allem Paul Celan. Die Frage, die über „Kindheitsbenzin“ schwebt: Wie wahr kann das Schreiben in einer Sprache sein, die nicht die Muttersprache ist? „Ich schreibe deutsche Prosa, in die ich meine Wahrheit übersetze, oder ich scheitere.“

Schon vor Schumatzky hatte am Samstag die 33 Jahre alte Schweizer Schriftstellerin Nora Osagiobare einen überraschend guten Text gelesen, den der Jury-Vorsitzende Klaus Kastberger spontan als „Siegertext“ qualifizierte: „An diesem Text passt für mich wirklich alles.“ Folglich bekam Osagiobare den dritten Preis, den Kelag-Preis, benannt nach einem österreichischen Stromkonzern, der ihn finanziert.

Viele Texte über Väter und Töchter

„Daughter Issues“, so der Titel, handelt von einer jungen Frau, die gerade ein TV-Format präsentiert hat. Darin soll Vätern eine Million Franken angeboten werden, wenn sie sich darauf einlassen, ihre Töchter niemals wiederzusehen. Nach der Präsentation will die Erzählerin sich mit ihrer Freundin Diana „abschießen“, also ordentlich Drogen konsumieren. Nach und nach kommt heraus, dass auch sie Probleme hat mit ihrem Vater – nur dass dieser zumindest dem Klischee des bösen Vaters, der sich mal schnell aus dem Staub macht, nicht entspricht.

Die Preisträger des diesjährigen Ingeborg Bachmann-Preises, von links: Boris Schumatsky, Tara Meister, Natascha Gangl, Almut Tina Schmidt und Nora Osagiobare. Tara Meister bekam ein zweimonatige Stipendium am Ossiacher See, das mit 3.000 Euro dotiert ist.

© dpa/WOLFGANG JANNACH

Es gab neben diesen drei tatsächlich besten Texten des Jahrgangs einige andere ordentliche. Dass Almut Tina Schmidt für ihre biedere, langweilige Geschichte über den Alltag in einem Mehrfamilienhaus den mit 5000 Euro dotierten 3-Sat-Preis erhielt, ist vielleicht die einzige Überraschung: Den hätte eher Thomas Bissinger verdient gehabt mit seinem Roman-Auszug über die Familie des jüdisch-österreichisch-niederländischen Physikers Paul Ehrenfest.

Kein Wort sei hier am falschen Platz, begeisterte sich Philipp Tingler. Und was für Worte: „Windbeute“, „glutmüd“, „Meineiderei“, „Wehrsinn“, „müdgewerkt“. Auch Nefeli Kavouras hätte man sich vorstellen können, mit ihrer Geschichte über einen sterbenden Vater, die dessen Tochter und die Mutter im perspektivischen Wechsel erzählen.

Nach vielen schwächeren Texten am ersten Lesetag war dieser 49. Bachmann-Wettbewerb insgesamt ein solider. Seit zwei zwei Jahrzehnten hat der Preis ein Problem, das er nicht gelöst bekommt: Seine Größe, sein Ruhm, die Aufmerksamkeit, die er bekommt, zu schweigen von den vielen Stunden Live-Fernsehsendezeit, stehen im Widerspruch zu der Literatur, die er präsentiert. Diese ist oft noch ein work in progress (viele Romanauszüge), performt von Autoren und Autorinnen, die entweder am Anfang ihrer Karrieren stehen oder aus welchen Gründen auch immer es bislang nicht recht geschafft haben.

Hohes literaturkritisches Niveau

In einem auffälligen Kontrast steht stets der literaturkritische Aufwand, den auch die in diesem Jahr bis auf eine Ausnahme auf hohem Niveau debattierende Jury betreibt, um manches schlichte Textchen zu bewerten. Selbst bei den guten Texten fragt man sich bisweilen, ob es jetzt nicht reicht und alles gesagt ist.

Dazu passte dieses Jahr die Diskrepanz zwischen den Reden am Eröffnungstag, dem dort gesungenen hohen Lied auf die Literatur und was sie als Medium der Erkenntnis angesichts der Kriseninflation der Gegenwart alles zu leisten vermag, und den vorgetragenen Texten, in denen es so gar nicht um aktuelle politische Konflikten geht.

Literatur braucht Zeit, davon zeugen Gangls und Schumatzkys Texte. Was sie nicht braucht, sind Skandale, wie sie sich ein Verantwortlicher des ORF bei der Eröffnung am Mittwochabend wünschte. Den gab es dieses Jahr nicht, und das war gut so.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })