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Das Sommermärchen vom Juni 1995: Christo und Jeanne Claude vor dem verhüllten Reichstagsgebäude in Berlin.

© Imago/Pemax

Expo oder Olympia in Berlin?: Die Sehnsucht nach einem neuen Christo-Moment

Im Sommer 1995 verzauberte Christo die Stadt mit der Verhüllung des Reichstags. Wenn Berlin jetzt die Bewerbung um die Expo oder Olympia erwägt, steckt dahinter auch die Hoffnung auf einen neuen Christo-Moment.

Rüdiger Schaper
Ein Kommentar von Rüdiger Schaper

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Große Städte suchen die große Erzählung. Als im September 2021 der Arc de Triomphe in seiner Verhüllung erstrahlte, schimmerte auch das Berliner Reichstagsgebäude wieder durch. Dreißig Jahre ist das jetzt her: Vom 24. Juni bis 7. Juli 1995 leuchtete der Berliner Himmel unter der künstlichen Sonne.

Kunst kann die Welt nicht verändern, heißt es. Christo bewies hier das Gegenteil, für einen langen, unvergesslichen Moment. Wo immer Christo einpackte und auspackte, in den Metropolen und in der freien Natur – diese vorübergehenden Metamorphosen besitzen eine bemerkenswerte Halbwertszeit.

Das Pariser Projekt wurde posthum ins Werk gesetzt. Christo war im Jahr zuvor verstorben, seine Partnerin Jeanne-Claude bereits 2009. In Paris hatten sie sich kennengelernt und 1962 ihre erste Installation geschaffen: die Blockade der Rue Visconti mit 204 Ölfässern. Die Aktion wurde seinerzeit als Kommentar zum Bau der Mauer in Berlin und zum Eisernen Vorhang verstanden.

Früh zeigte sich: Die Arbeiten von Christo und Jeanne-Claude waren politisch. Sie veränderten den öffentlichen Raum. Dem kollektiven Gedächtnis sind unauslöschliche Bilder geschenkt worden. Wie viele Menschen trifft man jetzt in Berlin, die vom verhüllten Reichstag schwärmen und sich an den Erinnerungen erfreuen. Und wie viele kennen nur die Bilder und wären gern dabeigewesen.

Frieden ist die größte Kunst auf dem Planeten

Beim Arc de Triomphe, dem Symbol des militärischen Stolzes der Grande Nation, kamen 25.000 Quadratmeter Polypropylen zum Einsatz. Beim Reichstagsgebäude war es die vierfache Menge: Stoff, der Träume von Harmonie und Gemeinschaft weckt. In der Welt, in der wir leben, kann man sich das kaum noch vorstellen. Krieg und Verwüstung in Gaza, in Israel, in Iran, in der Ukraine. Umso mehr wächst der Wunsch nach Frieden – denn Frieden ist die größte Kunst auf diesem Planeten.

In Zeiten der Disruption und gesellschaftlichen Spaltung lässt sich von Christo vieles lernen. Er hatte eine klare Idee davon, wie seine ephemeren und zugleich unglaublich aufwändigen Werke nur entstehen können. Er ließ sich nicht kaufen, trieb das Geld selbst auf. Er bestand darauf, dass die äußeren Bedingungen stimmten. Er war absolut unabhängig, widerständig und beharrlich.

Alle unsere Projekte funktionieren am Ende nur, wenn wir eine harmonische Situation mit den Entscheidungsträgern hergestellt haben. Und, ehrlich gesagt, wie sähe das aus, wenn sich Trump vor ,Over the River’ präsentieren würde. Nein danke!“

Christo 2017, nachdem er eine Aktion in Colorado abgesagt hatte

So blies er einst die Aktion „Over the River“ in Colorado ab. Die US-Demokraten unterstützen die Geschichte, die Republikaner waren dagegen. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel sagte Christo im Februar 2017: „Alle unsere Projekte funktionieren am Ende nur, wenn wir eine harmonische Situation mit den Entscheidungsträgern hergestellt haben. Und, ehrlich gesagt, wie sähe das aus, wenn sich Trump vor ,Over the River’ präsentieren würde. Nein danke!“ Trump war damals zum ersten Mal ins Weiße Haus eingezogen.

Meister der vielen kleinen Schritte

Christo wurde 1935 in Bulgarien geboren. Seine Familie litt unter dem sozialistischen Regime. 1956 floh er in den Westen. Freiheit ist das Wesen seiner Kunst. Freiheit und Stil. In seiner Dialektik offenbaren verhüllte, verkleidete Objekte ihren Charakter und verändern sich, zeigen sich in ihrer besten Gestalt. Die Menschen kommen, berühren das glänzende Material, um Zeuge dieser fast schon religiösen Wandlung zu werden. In Berlin damals, auf der Wiese am Reichstag, sollen es fünf Millionen Besucherinnen und Besucher gewesen sein.

Man kann dieses Erlebnis mit großen Worten nur beschreiben. Dabei erweist sich, dass Christo ein Meister der vielen kleinen Schritte war. Stolz erklärte er: „Die anderen Künstler bleiben in schönen, warmen Galerieräumen. Das hat nichts mit der Realität zu tun. Ich muss dagegen so arbeiten, als würde ich eine Autobahn oder eine Brücke bauen wollen, mit der ganzen Logistik und den Auseinandersetzungen mit den Kommunen.“ Die Realisierung des „Wrapped Reichstag“ dauerte fast ein Vierteljahrhundert. Und dann war in zwei Wochen alles vorbei ...

Das Vergängliche war auch das Kostbare. Die Reichstagsverhüllung wirkte wie ein Reflex der Wiedervereinigung und eine Blaupause von Sommermärchen. Heute sieht man wieder: Berlin lebt von diesen Eingriffen und Wandlungen. Diese Stadt ist sich selbst nie genug, es gibt da eine existenzielle Leere, die gefüllt werden will. Die Stadt der ewig Unzufriedenen erfreut sich an den großen Stimmungsaufhellern und Gemeinschaftserlebnissen wie dem Berlin-Marathon.

Hoffnung auf neuen Christo-Moment

Wenn jetzt davon die Rede ist, dass Berlin sich um die Expo oder Olympia bewerbe, steckt dahinter auch die Hoffnung auf einen neuen Christo-Moment. Die Silberbahnen des Verhüllungsmaterials ließen sich recyclen, vorbildlich auch das. Bei historischen Ereignissen und großen Gefühlen ist das Wiederverwenden schwierig. Doch auch die am Freitagabend zu Ende gegangene Lichtinstallation am Reichstag 30 Jahre nach Christos Verhüllung hat gezeigt: Die Sehnsucht bleibt.

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