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Die Siegessäule am Großen Stern im Berliner Tiergarten, gespiegelt in einer Regenpfütze.

© Katjana Charbonnier

Skizzen einer „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“: Mit Walter Benjamin im Tiergartenviertel

Walter Benjamin musste zweimal fliehen, einmal vor den Nazis in Berlin und einmal vor der Wehrmacht in Paris. Die Veröffentlichung seines persönlichsten Buchs erlebte er nicht mehr. Zeit für eine Revision.

Stand:

Zweihunderteinundsiebzig Stufen. Wer die Spitze der Siegessäule im Berliner Tiergarten erreicht hat, muss erst einmal nach Luft schnappen. Aber an diesem Vormittag, an dem das Thermometer schon auf knapp 30 Grad Celsius gestiegen ist, wölbt sich ein strahlend blauer Julihimmel über der Metropole.

Von hier oben, rund 51 Meter über Straßenniveau, ist die Aussicht überwältigend. Über den Tiergarten geht der Blick bis zum Brandenburger Tor und Reichstag, dahinter sind die Kuppeln des Doms und die Turmspitzen der Nicolai-Kirche zu erkennen, der Alexanderplatz mit dem spargelförmigen Fernsehturm. An seinem Schaft ist die silbern glänzende Aussichtskugel aufgespießt wie eine Olive am Cocktailspieß.

Die Stadt, ausgebreitet auf dem Präsentierteller, erscheint wie ein hyperrealistisches Riesenspielzeug. Touristen lehnen sich weit über das Geländer, staunen, fotografieren. Es ist von einem Zaun mit nach innen gebogenen Eisenspitzen geschützt. Damit bloß niemand herunterstürzt oder springt.

Viele Sprachen mischen sich im Himmel über Berlin

Viele Sprachen – Englisch, Japanisch, Türkisch, Spanisch, Italienisch – vermischen sich hier. Nur Deutsch ist kaum zu hören. Und wenn, dann stammt es von Touristen aus Sachsen oder Bayern. Kaum ein Berliner besucht heute das Denkmal, das in seiner Größe und Wucht wirkt, als markiere es nicht nur das Zentrum der Hauptstadt, sondern der ganzen Welt.

Vor 120 Jahren war das anders. Damals gehörte ein Ausflug zur Siegessäule zur patriotischen Schulbildung. Gefeiert wurden mit dem wilhelminischen Prunkturm der Sieg über Frankreich im Krieg von 1870/71 und die Gründung des zweiten deutschen Kaiserreichs.

Die vergoldete Victoria auf einer Postkarte aus dem Jahr 1900.

© Wikimedia Commons/Library of Congress

„Sie stand auf dem weiten Platz wie das rote Datum auf dem Abreißkalender“, schreibt Walter Benjamin in seinem Erinnerungsbuch „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“. Man hätte das Denkmal „mit dem letzten Sedantag“, also 1918, abreißen müssen, fügt er polemisch hinzu. Der Tag der siegreichen Sedan-Schlacht von 1870 wurde bis zum Untergang des Kaiserreichs von den Deutschen bejubelt.

Abends versammelte sich die Familie zum Lesekränzchen auf der Loggia. Auf die Reclam-Hefte schien das Gaslicht nieder. Romeos letzter Seufzer strich durch unsern Hof.

Walter Benjamin über die Kindheitserinnerung an sein Geburtshaus.

Als Quartaner, also mit zehn Jahren, hat Benjamin die Siegessäule besucht. Er stieg nur bis zur Säulenbasis empor, höher traute er sich nicht. Überhaupt war er sehr ängstlich. Den Raum an der Säulenbasis betrat er nicht, weil er fürchtete, dass ihn die Fresken dort an eines seiner Lieblingsbücher erinnern könnten: das Inferno aus Dantes „Göttlicher Komödie“.

Der Schmuck der Siegessäule stammte aus Dänemark, Österreich und Frankreich, die vom Deutschen Reich 1864, 1866 und 1871 besiegt worden waren. Doch Benjamin verstand nicht, was es mit den Kanonenrohren auf sich hat: „Ob die Franzosen mit goldenen in den Krieg gezogen waren, oder ob das Gold, welches wir ihnen abgenommen hatten, erst von uns zu Kanonen war gegossen worden.“

Die Kanonen waren Siegesbeute und gehörten zu den gigantischen Reparationszahlungen in Höhe von 5 Milliarden Francs (heutiger Wert: etwa 40 Milliarden Euro), die Frankreich nach 1871 an das Deutsche Reich zahlte. Ganz zu schweigen vom Elsass, Lothringen und dem Saarland, die Frankreich den Siegern überlassen musste.

Der Neue Westen war gefragter als die alte Mitte

„Ich war ein Gefangener des alten und neuen Westens“, hat Walter Benjamin an anderer Stelle in seinen Jugenderinnerungen notiert. Als Neuer Westen wurde zu seiner Zeit das neue Stadtzentrum zwischen dem Zoologischen Garten und dem Rathaus Schöneberg bezeichnet. Das alte Zentrum rund um den Alexanderplatz war nicht mehr en vogue.

Aufgewachsen war der Autor als Angehöriger des gehobenen Bürgertums in der heutigen City West, genauer gesagt im Tiergartenviertel, das als besonders vornehm galt. Gefangen war er gleich in doppelter Hinsicht: in den Konventionen und der Moral seiner Familie. Das nur wenige Quadratmeter kleine Areal seiner Streifzüge durch die Nachbarschaft durfte er genauso wenig verlassen wie das, was seine Eltern für schickliches Verhalten hielten.

In seiner „Berliner Chronik“, in der Walter Benjamin ähnliche Berlin-Feuilletons wie im „Kindheits“-Buch gesammelt hat, nennt er den Tiergarten ein „hohenzollersches Labyrinth“, aus dem er als Kind selbst mit einem Ariadne-Faden nicht herausgefunden hätte. Den Aufstieg in die Wohnung seiner Großtante Lehmann an der Steglitzer Straße (heute Genthiner Straße 3) beschreibt er als Abstieg in ein Bergwerk.

Walter Benjamins Grab in Portbou (Spanien). Dort beging er am 25. September 1940 Suizid.

© Wikipedia/Klaus Liffers

Denn an der Fassade schufteten Zipfelmännchen auf Reliefs, die heute nicht mehr existieren, mit Spitzhacken, schoben voll beladene Kohlekarren und leuchteten in die Stollen, in denen „Förderkörbe aufwärts und abwärts stets in Bewegung waren“.

Eine Märchenwelt, die hart an eine Wirklichkeit stieß, in der die Prostitution allgegenwärtig war. Am Bahnhof Zoo sprachen Prostituierte ihre Laufkundschaft an und reichten ihnen Zettel, auf denen die Plätze im Park genannt wurden, an denen sie zu treffen waren.

Einige Jahre später, in der Inflation, sollten sogar Häuser wie das seiner Tante Schauplätze dieser „niederträchtigsten Zerstreuungen“ werden. Versteht sich, fährt Benjamin bissig fort, „dass man die Etagen niemals erfahren konnte, in denen die Wohnzimmer der Verarmten und der Schoß ihrer Töchter den reichen Amerikanern sich öffneten“.

Benjamin vermischt Genres und Stile

Benjamins Jugend-Chroniken kann man heute wie einen Reiseführer benutzen. Er führt in eine Berliner Vergangenheit, deren Überbleibsel im Zweiten Weltkrieg und den Wiederaufbaujahren weitgehend zerstört wurden. Benjamin erinnert sich mit der Präzision eines Baedeker-Führers. Aber er schreibt atemberaubend anders als jeder Reiseführer-Texter.

Bei Walter Benjamin vermischen sich Genres und Stile: Roman, Memoir, Essay, Kultur- und Gesellschaftskritik. Als Erwachsener versetzt er sich zurück in sein Kindheits-Ich. Eine Herangehensweise, die an die detailbesessene Erinnerungsarbeit in Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erinnert. Nur dass Benjamin mit deutlich weniger Platz auskommt.

Seine Texte sind so kurz, weil sie ursprünglich in die Glossenspalte einer Tageszeitung passen sollten. Benjamin schrieb sie für die „Literarische Welt“ des Ullstein-Verlags, deren Redakteur Franz Hessel mit ihm befreundet war. Nach 1933 konnten sie, wie der Adorno-Schüler Rolf Tiedemann in einem Postskriptum erläutert, nicht mehr in Deutschland erscheinen.

Christopher Isherwood schildert in seinen Romanen „Good-Bye to Berlin“ und „Mr Norris Changes Trains“ zur gleichen Zeit wie Benjamin das Nachtleben an der Motzstraße und am Kurfürstendamm. Seine Arbeitsweise beschreibt er mit dem berühmten Bonmot: „I am a Camera“. Ich bin eine Kamera.

Auch Walter Benjamin vergleicht seine Erinnerungstechnik mit dem Fotografieren. Es sei nicht immer die Schuld „einer allzukurzen Belichtungsdauer“, schreibt er in der „Berliner Chronik“, wenn auf der „Platte des Erinnerns“ kein Bild erscheine. Häufiger seien die Fälle, „wo die Dämmerung der Gewohnheit der Platte jahrelang das nötige Licht versagt“. Mit der Zeit löst sich das Gedächtnis im Dunst der Dämmerung auf.

Die wilhelminische Welt, von der Benjamin erzählt, ist heute weitgehend verschwunden. Allerdings existieren die zentralen Schauplätze seiner Kindheit und Jugend bis heute. Das Haus an der Kurfürstenstraße 154, in dem er 1892 geboren wurde, hat sich kaum verändert.

Walter Benjamins Geburtshaus in der Kurfürstenstraße 154, direkt neben dem gleichnamigen U-Bahnhof.

© Christian Hermann

Noch immer residiert im Erdgeschoss die Kurmark-Apotheke, deren Gründer das Gebäude 1873 erbauen ließ. Die Originaleinrichtung mit ihren altertümlichen Schubladenwänden, Glasbehältern und dem etwas verwinkelten Ausgang in den Miethausflur wird bis heute genutzt.

Walter Benjamin wuchs mit den Eltern und seinen Geschwistern Dora und Georg in der ersten Etage des Hinterhauses auf. „Der Takt der Stadtbahn und des Teppichklopfens wiegte mich in Schlaf“, schreibt er im „Kindheits“-Buch.

Albträume mischten sich mit Glücksmomenten

„Alles wurde mir im Hof zum Wink. Wieviele Botschaften saßen nicht im Geplänkel grüner Rouleaux, die hochgezogen wurden, und wieviele Hiobsposten ließ ich klug im Poltern der Rolläden uneröffnet, die in der Dämmerung niederdonnerten.“

Albträume mischen sich mit Glücksmomenten, die Dinge wirken für das Kind wie Lebewesen. Abends versammelt sich die Familie zum Lesekränzchen auf der Loggia. Auf die Reclam-Hefte scheint das Gaslicht nieder. „Romeos letzter Seufzer strich durch unsern Hof auf seiner Suche nach dem Echo, das ihm die Gruft der Julia in Bereitschaft hielt.“

Angelus Novus. Walter Benjamin erkannte in diesem geflügelten Mann, den Paul Klee 1921 malte, den Engel der Geschichte.

© The Israel Museum, Jerusalem, Elie Posner

Häufig, erzählt der aktuelle Kurmark-Apotheker, kommen Touristen in sein Geschäft, fragen nach Benjamin, machen Fotos und sind überrascht, dass keine Gedenkplakette am Haus hängt. „Bei vielen steht unsere Apotheke wohl auf der Bucket List von Orten, die sie in Berlin unbedingt besuchen wollen.“

Walters Vater Emil Benjamin war 1856 in Köln geboren worden und hatte es als Kunst- und Antiquitätenhändler zu Wohlstand gebracht. Die Mutter Pauline, geborene Schoenflies, kam 1869 in Berlin zur Welt. Beide stammten aus jüdischen Familien, verstanden sich als assimiliert und feierten nur an hohen Feiertagen in der Synagoge.

Die Familie Schönflies gehörte, anders als der Aufsteiger Emil Benjamin, zum gehobenen Bürgertum. Der Standesunterschied ist deutlich zu spüren, wenn man die ehemalige Villa von Walters Großtanten betritt, die nur 900 Meter vom Geburtshaus entfernt ist, sich aber in einer damals weit besseren Lage des Tiergartenviertels befindet.

Das Haus in der Genthiner Straße 3 im Tiergartenviertel. Dort lebte Walter Benjamins Großtante Lehmann.

© Christian Hermann/Tsp

Das Haus wirkt stattlicher, die Etagen sind höher, es gibt einen Vor- und einen Hintergarten. Walter Benjamin? Eine junge Frau, die offenbar gerade aus ihrer Mietwohnung auszieht, hat den Namen noch nie gehört. Auch eine ältere Dame, die die Treppe hinauf- stürmt, winkt ab. „Keine Ahnung. Ist wohl eine Bildungslücke.“

Es gibt immer noch die alten Handläufe aus Messing, ornamental verflochtene Bodenfliesen und Jugendstil-Frauenköpfe, die die Bogen über dem Eingang tragen. Auf der Treppe liegt ein roter Kokosläufer. Walter Benjamin befand 1930, dass das Haus zu einer Ecke von Berlin gehöre, „die der Wandel der letzten dreißig Jahre kaum berührte“.

Wenn er als Kind mit seiner Mutter die Großtanten besuchte, schienen sie schon gewartet zu haben. Sie saßen „immer unter dem gleichen schwarzen Häubchen und im gleichen Seidenkleide“ und hießen Mutter und Sohn „aus dem gleichen Lehnstuhl, vom gleichen Erkerfenster“ aus willkommen.

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„Wie Feen, die ein ganzes Tal durchwirken, ohne noch je darein hinabzusteigen, durchwalteten sie ganze Straßenzüge, ohne jemals in ihnen zu erscheinen.“ Sagenhafte Gestalten, geradezu verwachsen mit den Steinfiguren des Fassadenschmucks.

Als Kind fühlte sich Benjamin im eklektischen Prunk dieser Attrappenarchitektur gut behütet. Als er in der Emigration sein großes, zu Lebzeiten unvollendetes „Passagenwerk“ schrieb, hatte er dafür nur noch Verachtung übrig.

Polemisch verdammt er das Interieur des 19. Jahrhunderts: „Der Raum verkleidet sich, nimmt (...) die Kostüme der Stimmungen an (...). Am Ende sind die Dinge nur Mannequins.“ Er ist ein Anhänger der schmucklosen Moderne und erkennt im „Nihilismus“ des Historismus den „innersten Kern der bürgerlichen Gemütlichkeit“.

Auch von seiner Schule, dem Kaiser-Friedrich-Gymnasium an der Bleibtreustraße 43 in Charlottenburg, war Walter Benjamin befremdet. Ihre märkische Backsteingotik, die besser nach Stendal oder Tangermünde passe, fand er provinziell.

Keine gute Erinnerung ans Gymnasium

Alles an ihr sei „engbrüstig, hochschulterig“ gewesen, mit ihr habe er „keine einzige heitere Erinnerung“ verbunden. Benjamin war kein guter Schüler, den Zwang, vor den Lehrern die Schülermütze zu lüpfen, fand er entwürdigend. Nach dem Abitur hat er die Schule nie wieder betreten.

Heute befindet sich in dem steil aufragenden Gebäude die Joan-Miró-Grundschule. Sie besteht aus einer deutschsprachigen Regelschule und einer spanischsprachigen, vom Erasmus-Programm der EU geförderten Europaschule. Mit seinen inzwischen von innen vermauerten Maßwerkfenstern erinnert das vorbildlich restaurierte Haus an einen gotischen Dom.

Der Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin, geboren 1892 in Berlin.

© IMAGO/Bridgeman Images/Stefano Bianchetti

Aus der Ritterburg, deren Herrenmenschen-Getue und Vaterlandskult Benjamin abgestoßen hatte, ist ein freundlicher Ort des internationalen Austauschs geworden. Im Schulhof direkt neben dem angrenzenden S-Bahnhof Savignyplatz spenden Eichen Schatten, wachsen Büsche und Efeu. Rumpelnd fahren S-Bahn-Züge im Minutentakt im Bahnhof ein und aus.

Am Sportplatz neben der Joan-Miró-Schule wirbt ein DFB-Banner mit dem Slogan „Fußball ist Zukunft“. Walter Benjamin musste an einer Art Reichsjugendspiele teilnehmen, die ihm verhasst waren. Sie fanden jeden Sommer „auf irgendwelchen Feldern oder Exerzierplätzen in der Nähe des Lehrter Bahnhofs“ statt. Für ihn, mehr Bücherwurm als Sportskanone, die reinste Qual.

Walter Benjamin war ein Vielschreiber. Seinen heute berühmtesten Text, den Essay über das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, verfasste er in vier Monaten. Mit den Deadlines für seine Zeitungs- und Rundfunkbeiträge hatte er keine Probleme.

Die Markthalle III, 1884 bis 1886 errichtet, in der Zimmerstraße 90, unweit des Checkpoint Charlie. Hier ging Benjamin oft mit seiner Mutter zum Einkaufen.

© Christian Hermann

Die enorme Produktivität war aber auch die Folge von Benjamins immer prekärer werdenden Lage. Sein Vater hat ihn lange finanziell gefördert. Doch als der Unternehmer in der Inflation und während der Weltwirtschaftskrise fast sein ganzes Vermögen verlor, musste er die Unterstützung einstellen.

Seine Frau Dora Kellner, die Walter Benjamin 1917 geheiratet hatte, sicherte mit ihrer Arbeit als erfolgreiche Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin jahrelang den Familienunterhalt. Ihrem gemeinsamen Sohn Stefan hat Benjamin die „Berliner Chronik“ gewidmet.

Über Benjamins Erinnerungen liegt der Schatten des Hitlerschen Reichs. Die Trümmer von Berlin antworten den Innervationen, welche der Stadt von 1900 gelten.

Theodor W. Adorno, Philosoph und Freund von Walter Benjamin.

Allerdings klagte Kellner darüber, dass Benjamin gern auf großem Fuß lebte, in teuren Hotels abstieg und teure Antiquitäten und Bücher kaufte. Auch nachdem sie sich 1921 getrennt hatten, half die aus Wien stammende Dora weiterhin Walter mit einem Teil ihrer Einnahmen beim Berliner Ullstein-Verlag. Nach der Scheidung blieben sie befreundet.

Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, musste Walter Benjamin aus Berlin flüchten. Er zog nach Paris, wo er schon vorher am „Passagenwerk“ und den Texten über seine Berliner Jugend gearbeitet hatte. Über ihnen, schreibt Theodor W. Adorno, liege bereits „der Schatten des Hitlerschen Reichs“.

Benjamin muss zweimal vor den Nazis fliehen

„Die Trümmer von Berlin antworten den Innervationen, welche der Stadt von 1900 gelten“, bilanziert Adorno 1950. Ein Jahr zuvor war der in New York zu Ruhm gekommene Philosoph nach Deutschland zurückgekehrt.

Die Reihenfolge der Berlin-Texte konnte Walter Benjamin nicht mehr festlegen, auch nicht, welche der ursprünglich für Zeitungen und den Rundfunk konzipierten Beiträge in die geplante Buch-Ausgabe passen würden. Denn aus Paris musste er erneut flüchten, im Juli 1940, als die Wehrmacht unmittelbar vor der Stadt stand.

Diesmal floh Walter Benjamin in Richtung Süden, in die unbesetzte Zone, dorthin, wo Hitlers Truppen noch nicht waren. Mit einer kleinen Gruppe von Emigranten kam er an die französisch-spanische Grenze direkt neben dem Mittelmeer. Sie bestiegen Bergpässe und überquerten bis zu 700 Meter hohe Felsgipfel.

Beim Örtchen Portbou gelangten sie auf katalanischen Boden. Dort, bereits in Spanien, beging Benjamin in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1940 Suizid, wohl mit einer Überdosis Morphium. Er war schwer herzkrank, erschöpft und entkräftet. Die Nazis hatten ihn buchstäblich in den Tod getrieben.

Bis dahin hatte ihn sein wertvollster Besitz, ein Aquarell von Paul Klee, nie verlassen. Walter Benjamin erwarb das Bild bereits 1921 für die damals stattliche Summe von 1000 Reichsmark, ein Jahr, nachdem Klee es gemalt hatte. Es zeigte einen geflügelten Mann, den Benjamin für einen Engel hielt und „Angelus Novus“ taufte. Ob er ihn in Portbou noch bei sich hatte oder ihn bereits zuvor seinem besten Freund Gershom Scholem mitgegeben hatte, ist unklar.

In diesem Engel kann man ein Porträt von Walter Benjamin sehen. Er selbst hat ihn so beschrieben: „Ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat; ein Sturm, den wir Fortschritt nennen.“ 

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