
© Ronja Falkenbach für den Tagesspiegel, Marion Eichmann, VG Bild-Kunst Bonn 2025
Welt aus Papier: Eine besondere Werkreihe von Marion Eichmann
Zum 80-jährigen Jubiläum des Tagesspiegels nimmt die Berliner Künstlerin Marion Eichmann ihre Stadt für eine besondere Werkreihe in den Blick. Tagesspiegel-Herausgeber Lorenz Maroldt hat sie im Atelier getroffen.
Stand:
Marion Eichmann arbeitet auf zwei Etagen in einem schneeweißen Atelier in Oberschöneweide. Bekannt ist sie für ihre reliefhaften Motive, die Objekte aus dem Alltag nachbilden, manche in originaler Größe: 2017 machte die Künstlerin Furore mit ihrem „Laundromat“, der exakten Wiedergabe eines Waschsalons. Im Anschluss folgten internationale Aufträge etwa vom Luxuslabel Hermés, für das Eichmann in Paris und Hongkong teils monumentale Schaufenster gestaltete. Ab 2021 durfte sie ein Jahr lang im Deutschen Bundestag arbeiten, mit „Sight.Seeing Bundestag“ entstand ein eindrucksvolles Porträt der Gebäude des Bundestags in Berlin, das sich aus 110 Arbeiten zusammenfügt. Ein Teil der Werke ist dauerhaft im Marie Lüders Haus zu sehen.
Obwohl die Bilder aus geschnittenem Papier bestehen und oft noch mit farbigen Elementen akzentuiert sind, liegt bei unserem Besuch im Atelier nirgendwo ein Schnipsel. Ihre reliefhaften Impressionen von Berlin, die im Rahmen von „Stadtrundfahrten Berlin“ für den Tagesspiegel entstanden sind, hängen an den Wänden: die Alte Nationalgalerie oder der Bahnhof an der Friedrichstraße mit einer leuchtend gelben Tram, aber auch ein Bechstein-Klavier, für das sie jede Taste einzeln ausschneidet, um daraus eine plastische Collage zu komponieren. Auf einem großen Bogen Papier daneben erkennt man ein Motorrad, schwarz-weiße Linien ahmen die Konturen exakt nach. Man sieht aber auch, dass dieses Bild noch im Anfangsstadium ist, es beginnt immer mit einer Zeichnung.
Wie machen Sie das mit den Proportionen? Zeichnen Sie das Motorrad nach einem Plan oder nach dem Ansehen?
Marion Eichmann: Bei den Objektarbeiten messe ich alles aus. Wenn mir das nicht gelingt wie vor Jahren in einem Casino, wo ich jeden Automaten ausmessen wollte und deshalb auf leichte Skepsis gestoßen bin, muss ich am Ende fotografieren. Dabei ist es mir total wichtig, alles vor Ort mit Skizzen zu erfassen. Das habe ich auch mit einem Porsche 911 gemacht, der zufällig immer wieder vor meinem Atelier parkte. Irgendwann kam sein Besitzer vorbei und wollte wissen, was ich da eigentlich mache.

© Ronja Falkenbach für den Tagesspiegel, Marion Eichmann, VG Bild-Kunst Bonn 2025
Weil Sie die mit dem Zollstock an seinem Auto hantierten?
Ja, aber ohne es anzurühren. In meiner Arbeit geht es vielmehr darum, genau zu schauen. Für mich beginnt die Kunst mit der Frage: Wie kann ich dieses Auto, eine Tankstelle oder ein Gebäude so darstellen, dass es eine innere Spannung besitzt. Das ist für mich weit mehr als eine Rekonstruktion, ich versuche mir das jedes Mal aufs Neue zu erarbeiten.
Wann wird Ihnen klar, dass ein Objekt sich als künstlerisches Thema eignet? Zwischen dem hyperästhetischen Porsche und der raumfüllenden Papierinstallation „Laundromat“ liegen ja Welten: Das Auto finden viele schön, einen Waschsalon höchstens nützlich. Was interessiert Sie daran?
Ich versuche, nicht zu werten, sondern Dingen gleichermaßen interressiert gegenüberzustehen. Ich liebe Gegensätze und brauche beides, um irgendwo hinzukommen. Mir sind auch die vermeintlich hässlichen Dinge wichtig, weil ich alles zeichnend in Papier umsetze, was uns umgibt. Eine Steckdose gehört ebenso dazu wie ein Notschalter oder eine Mülltonne.
Wenn Besucher etwa einen signalgelben Container aus Papier im Museum sehen, schauen sie sich den ganz anders an. Für mich ist das auch erstmal eine fast abstrakte Grafik. Wenn die Besucher dann wieder gehen, haben sie einen neuen Blick für diese Dinge, die sie sonst kaum wahrnehmen. Genau das reizt mich.

© Ronja Falkenbach für den Tagesspiegel
Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein Motiv für sich entdeckt haben?
Ich bin nie auf der Suche, sondern immer unterwegs. Und wenn ich das Gefühl habe, dass etwas überhaupt nicht zu schaffen ist, dann sage ich: Okay, diese Herausforderung interessiert mich. Es geht um die Umsetzung einer Realität, die ich neu konstruiere – als Spiel mit den verschiedenen Möglichkeiten des Papiers, der Zeichnung, von Farbe und Plastizität.
Für die Motive Ihrer Werkserie „Stadtrundfahrten Berlin“ haben Sie jedes Gebäude und jedes Objekt direkt vor Ort gezeichnet. Was geschieht anschließend im Atelier?
Eine Menge. Jede Zeichnung besteht aus vielen Ebenen. Zum Beispiel zeichne ich die Zeichnung mehrfach und schneide die Linien aus, um sie dann wieder reliefhaft zu einer Zeichnung zusammen zu collagieren. Die Auswahl, das Spiel mit Licht und Schatten und dem Effekt, dass jedes Motiv nicht bloß flächig ist, sondern ein Bild, in dem sich immer neue Dinge entdecken lassen.
Ich zeichne quasi mit der Schere, abstrahiere und interpretiere das Gesehene, das Papier wird für mich zum Material. Ich schneide weiße und farbige Flächen mit einem Cutter, der Nagelschere oder dem Skalpell aus und muss erst einmal zur neuen Form finden, bevor ich alles aufklebe. Die Collagen bestehen aus einer Vielzahl von zum Teil sehr kleiner Einzelteile.
Gerade im Kontrast zum Digitalen, in dem wir uns befinden, wird Papier ja oft als was Anachronistisches gesehen. Was ist Papier für Sie?
Etwas Kostbares, Wertvolles, vor allem aber auch etwas Naheliegendes. .Ich versuche, die verschiedensten Sachen aus Papier zu machen, gehe ins Objekthafte, ins Malerische oder bleibe in der Zeichnung. Ich muss eigentlich immer etwas in der Hand haben und mag es zum Beispiel sehr, den Tagesspiegel in der Hand zu halten und zu blättern.
Sie haben sicher einen hohen Papierverbrauch.
Ich verbrauche viel Papier, verwende aber jeden Papierbogen komplett. Ich benutze sehr hochwertige, lichtechte, säurefrei Museumspapiere.
Ihre Diplomarbeit war 2002 in einem leeren Laden in Berlin-Mitte zu sehen. Dort haben Sie die Einrichtung und sich selbst mit einem grafischen Strickdesign überzogen. Wie sind Sie von der Wolle zum Papier gekommen?
Für die Diplomarbeit wollte ich einen Raum verfremden. Deshalb kam mir die Idee, mit Stoff zu arbeiten – und natürlich wollte ich ihn selbst herstellen. In der Akademie stand eine alte Strickmaschine, an der ich ein Jahr lang nachts experimentiert habe. Tagsüber war der Raum von den Modestudierenden belegt.

© Marion Eichmann, VG Bild-Kunst Bonn 2025
Ich bin wirklich weit über meine Grenzen gegangen, deshalb hieß die Arbeit „16324800 Maschen“, weil es so viele waren. Sie kamen zwar aus einer Maschine, aber ich habe sie von Hand betätigt. Die Installation wurde anschließend im Vitra Design Museum und im Ausland gezeigt. Ich habe bereits mit meiner Abschlussarbeit sehr viel Anerkennung bekommen, und kämpfen muss in dem Bereich jeder…
Was meinen Sie mit damit, wann mussten Sie kämpfen?
Ich wusste schon als Kind, das ich Kunst machen will. Viele ändern ihren Plan, wenn sie kein gutes Feedback kriegen, aber ich bin zäh, gebe nicht schnell auf und versuche, mit meinen Mitteln irgendwie weiterzukommen. Nach meinem Studium hatte ich lange den Eindruck, mit meiner künstlerischen Arbeit nicht ernst genommen zu werden. In dieser Zeit herrschte noch eine totale Trennung zwischen Malerei, Grafik, Mode und Fotografie.
Heute sieht man überall Papierarbeiten und Cut Outs, damals haben sich nur wenige intensiv mit meinen Arbeiten auseinandergesetzt. Sie ließen sich nicht einordnen, das sorgte für Verunsicherung. Es war sehr, sehr anstrengend, aber ich habe für mich immer einen Weg gefunden und mein Ding gemacht. Ich möchte auch keinen Stempel bekommen, sondern frei in dem sein, was ich mache.

© Ronja Falkenbach für den Tagesspiegel, Marion Eichmann, VG Bild-Kunst Bonn 2025
Sie haben Ihre Kindheit angesprochen, in der Sie bereits gezeichnet haben.
Ich habe eigentlich immer mit Stiften gemalt. Es war ziemlich schwierig, ich weiß das noch so gut, weil ich – vor allem aber meine Eltern – viel Ärger damit hatten. In der Schule hieß es, Ihre Tochter malt immer nur. Für mich gab es aber auch nichts anderes.
Was fordert Sie heraus? Welcher Aufgabe würden Sie sich gern stellen, haben sich aber noch nicht getraut?
Ich hätte große Lust, eine ganze Fabrik nachzubauen, ein Kraftwerk oder einen riesigen Kran eins zu eins, etwas in dieser Richtung. Leider bin ich bereits für die nächsten drei Jahre mit Ausstellungen beschäftigt und müsste mir die Zeit dafür freischaufeln. Es kommen gerade immer mehr Anfragen, und die Arbeit an meinen Bildern ist sehr aufwändig. Ich bin gerade 14 Stunden täglich im Atelier. Aber beschweren möchte ich mich nicht. Das Schönste für mich ist, die Bilder und meine Kunst zeigen zu können. Und es ist mir wichtig, dass meine Arbeiten öffentlich zu sehen sind.
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