zum Hauptinhalt
Wolodymyr Selenskyj (M), Präsident der Ukraine, spricht mit Soldaten in einer Stellung in Awdijiwka.

© dpa/-

Kiews Frühjahrsoffensive: Der Krieg entscheidet sich 2023 – ohne zu enden

Die Ukraine muss zeigen, ob sie mit westlichen Waffen bis Herbst besetzte Gebiete zurückgewinnen kann. Erst danach haben Verhandlungen eine Chance.

Christoph von Marschall
Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Stand:

Über den Winter waren die Fronten im Ukrainekrieg weitgehend erstarrt. Mit dem Frühjahr kommt Bewegung in das Kampfgeschehen. Russen wie Ukrainer hoffen bei ihren Offensiven auf einen Durchbruch.

2023 wird zum Jahr der Vorentscheidung. Darauf weist auch der Überraschungsbesuch des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg hin, sein erster seit dem russischen Angriff vor 14 Monaten. Die Nato liefert zwar keine Waffen. Das tun einzelne Staaten. Am Freitag beraten sie in Ramstein, wie sie die Frühjahrsoffensive der Ukraine unterstützen. Stoltenberg ist aber ein Fürsprecher der Militärhilfe.

Enden wird der Krieg 2023 wohl kaum. Nicht einmal Verhandlungen sind wahrscheinlich, auch wenn manche in Deutschland darauf hoffen. Das Kriegsgeschehen diktiert den Handlungsrahmen der Diplomatie. Zu Kompromissen sind beide Lager erst bereit, wenn sie fürchten müssen, dass es sonst schlimmer für sie kommt.

Frieden? Es fehlt an Verhandlungsmasse

Derzeit rücken weder die Russen von ihrer Vorbedingung für Gespräche, dass alle besetzten Gebiete russisch bleiben, ab. Noch die Ukrainer von ihrer, dass sie die Kontrolle über alle Teile ihres Landes zurückerhalten müssen. Da ist keine Schnittmenge als Verhandlungsmasse zu erkennen.

Die Russen haben mit ihren vehementen Angriffen um Bachmut nur geringe Erfolge erzielt, aber enorme Verluste erlitten. Nun richten sich die Augen auf die Frühjahrsoffensive der Ukraine. Sie muss beweisen, dass sie mit der westlichen Waffenhilfe in den kommenden Monaten Geländegewinne erzielen kann – wie im Spätsommer 2022 im Süden um Cherson und im Osten um Charkiw.

Gelingt das, können westliche Regierungen ihren Bürgern erklären, dass die kostspielige Unterstützung lohnt. Bleibt der Erfolg dagegen aus, werden sie ihre Strategie überdenken. Das gilt besonders für die USA, den entscheidenden Waffenlieferanten. Dort wird 2024 gewählt.

Für die Ukraine ist das bitter. Die prinzipiell unbegrenzten Hilfszusagen – „solange es nötig ist“, haben Joe Biden, Olaf Scholz & Co. immer wieder beschworen – haben de facto eine unausgesprochene Verfallsklausel.

Geländegewinne sind jetzt aber viel schwieriger als bei der erfolgreichen Spätsommeroffensive 2022. Damals drängten die Ukrainer die Russen in einem Bewegungskrieg zurück, der diesen keine Zeit ließ, neue Verteidigungslinien aufzubauen. Nun haben die Russen den Winter genutzt, um ihre Positionen zu befestigen.

Zudem erhält Kiew nicht alles, was es bräuchte, um große Geländegewinne zu erzielen. Voran Distanzwaffen, die militärische Ziele in 300 statt bisher 90 Kilometer Entfernung treffen können, um den russischen Nachschub zu unterbrechen. Dazu mehr Panzer, mehr Artillerie, mehr Luftabwehr, mehr Munition. Dann könnten die Russen auch die Krim nicht mehr halten.

Deshalb werden beide Seiten abwarten, wie sich das Kriegsgeschehen entwickelt. Aussicht auf einen Verhandlungsfrieden gibt es erst, wenn Ukrainer oder Russen ihre Position signifikant verbessern.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })