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75 Jahre Nato: Militärisch so stark wie seit Jahrzehnten nicht – doch von innen bedroht
Der Nato-Jubiläumsgipfel hat eine weitere Aufrüstung der Ukraine und des Bündnisses beschlossen. Doch der militärischen Stärke stehen immer bedrohlichere Fliehkräfte im Innern gegenüber.

Stand:
Militärisch kann der Nato niemand etwas. In den 75 Jahren seit ihrer Gründung wagte kein anderer Staat einen Angriff auf ein Mitglied des Bündnisses. Die wirtschaftliche Stärke im Hintergrund, die Abschreckung durch Aufrüstung erst möglich machte, zwang letztlich auch den Warschauer Pakt in die Knie – ohne Krieg.
Heute gibt es Parallelen, die Beschlüsse von Washington sollen Wladimir Putins Russland signalisieren, dass es gegen die Allianz mit ihren höheren Wehretats und neuen Verteidigungsplänen nirgends eine Chance hätte – auch nicht im geografisch besonders verletzlichen Baltikum. Gerade im Ostseeraum ist die Nato mit den Neumitgliedern Finnland und Schweden schlagkräftiger als je zuvor. Erste Reaktionen aus Moskau zeigen, dass die Botschaft der Stärke ankommt.
Eine andere Lage als im Kalten Krieg
Die Lage ist trotzdem nur bedingt mit dem vergleichsweise simplen Abschreckungsszenario im Kalten Krieg vergleichbar. Mitten in Europa tobt ein blutiger Krieg. Während die Nato aus Eigeninteresse das verbündete Nicht-Mitgliedsland Ukraine in nie dagewesenem Ausmaß mit Expertise und Waffen unterstützt, steht Russland mit China die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt zur Seite. Solange sich das nicht ändert und Peking aggressiv auf die Benennung dieser Tatsache reagiert, wird es schwer, in einem militärisch-ökonomischen Dauerkonflikt zu bestehen. Einen anderen Plan hat die Nato bisher nicht.
Zumal die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kosten dafür in den Mitgliedstaaten nicht unumstritten sind, um es milde zu formulieren. Und das in einer Zeit, da sich viele westliche Marktwirtschaften ohnehin in teils schmerzhaften Transformationsprozessen Richtung Digitalisierung und Klimaneutralität befinden. Vielerorts gewinnen Kräfte hinzu, die den Preis von Inflation und Etatkürzungen an anderer Stelle nicht mehr bezahlen wollen oder gleich die angeblich aggressive Nato-Osterweiterung zum Auslöser vermeintlich legitimer russischer Gegenwehr umdeuten.
Immer noch ziemlich wehrlos im hybiden Krieg
Keinerlei Mittel gefunden hat die Nato – auch wenn sie jetzt Fähigkeiten in einem neuen Cyberabwehrzentrum bündelt – bisher gegen Desinformationskampagnen und andere Formen der hybriden Kriegsführung. Mit dem Ziel der Zersetzung beeinflussen Russland und China im Zeitalter sozialer Medien auf vielfältigste Weise den gesellschaftlichen Diskurs des Westens.
Die Suche nach einer Antwort stürzt Demokratien zwangsläufig in ein Dilemma: Verbote bestimmter Medien und Plattformen oder eine erzwungene Anpassung von Algorithmen, die polarisierende Inhalte differenzierten vorziehen, werden als Eingriff in Meinungs- oder Geschäftsfreiheit kritisch beäugt. Es lässt sich schwer unterscheiden, was erwünschte Kritik eigener Bürgerinnen und Bürger ist und was manipulative Beeinflussung aus dem nichtbefreundeten Ausland.
Die Heimatfront bröckelt nicht nur in den USA
So bröckelt, wenn man so will, die Heimatfront weiter. Die Ausnahme für Viktor Orbans Ungarn bei der Nato-Koordinierung von ukrainischer Armeeausbildung und Waffenhilfe höhlt das Einstimmigkeitsprinzip aus. Orbans unabgestimmte „Friedensmission“ in Moskau und Peking nährt die Zweifel im Bündnis noch.
Über allem schwebt die Sorge, Donald Trump könnte nach seiner Wahl die Nato-Führungsmacht Amerika aus dem Bündnis herausführen. Ob Deutschland mit noch viel höheren Rüstungsausgaben dieses Sicherheitsvakuum größtenteils füllen könnte, ohne dass die AfD noch mehr Zulauf bekäme als ohnehin schon?
Vieles auf dem Gipfel diente bereits der Schadensbegrenzung für das Schreckensszenario Trump: Notfalls soll ihn das verstärkte Engagement der Europäer milder stimmen und überzeugen, dass sie nicht nur Sicherheits-Schmarotzer sind. Zugleich wurde versucht, ihn bereits politisch zu binden: mit einer konkreten Summe bei der Waffenhilfe für Kyjiv im nächsten Jahr oder der angekündigten US-Raketenstationierung in Deutschland – was wiederum hierzulande Nato-Gegner auf den Plan ruft.
So befindet sich die Nato im Jahr ihres 75. Geburtstag in einem eigentümlichen Aggregatszustand: Das Bündnis ist militärisch so stark wie seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr und doch zunehmend von innen bedroht. Oder wie es der berühmte Bochumer Herbert Grönemeyer einmal musikalisch formuliert hat: „Außen hart und innen ganz weich.“
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