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Der Bundestag steht mal wieder vor einer Wahlrechtsreform: Es sollen weniger Abgeordnete werden.

© John MacDougall/AFP

Ampel-Modell mit Unwägbarkeiten: Auch in der SPD gibt es Bedenken zur Wahlrechtsreform

Die Union will nach Karlsruhe. Aber auch in der Koalition formiert sich Widerstand gegen das Kappen von Direktmandaten. Wo liegen die Nachteile des Modells?

Die Ampel-Koalition will zügig zu einer Wahlrechtsreform kommen. Am Dienstag befassten sich die Bundestagsfraktionen von SPD, Grünen und FDP mit dem Vorschlag, den drei Abgeordnete aus ihren Reihen Mitte Mai vorgestellt hatten. Ausdiskutiert scheint es noch nicht zu sein. Jedenfalls gibt es zumindest in der SPD-Fraktion auch Bedenken – die ähnlich klingen wie jene, die aus der Unions-Fraktion und auch der Linksfraktion gekommen sind.

Die Landesgruppe der brandenburgischen Sozialdemokraten hat sogar ein eigenes Positionspapier eingebracht, in dem es heißt, die zehn Abgeordneten seien mehrheitlich gegen den Vorschlag der drei Ampel-Obleute in der Wahlrechtskommission des Bundestags. Der aber wird an diesem Donnerstag in die Eckpunkte einfließen, welche die Kommission dem Bundestag vorlegen soll. Die seit Mai vorgebrachten Bedenken gegen den Vorschlag werden in dem Ampel-Entwurf für den Zwischenbericht, der dm Tagesspiegel vorliegt, nicht aufgenommen.

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Ihre skeptische Haltung wird von den Brandenburgern mit Argumenten begründet, die auch die Unions-Fraktion und die Linksfraktion vorbringen. „Der vorliegende Vorschlag“, heißt es in dem Papier, „macht es möglich, dass der/die Kandidat:in mit den meisten Erstwahlstimmen dennoch kein Mandat erhält.“ Das widerspricht nach Ansicht der Brandenburger Sozialdemokraten „dem Demokratieverständnis der Menschen“ und auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, wonach es im Wahlrecht darauf ankommt, dass Wähler nachvollziehen können, was mit ihrer Stimme passiert.

Gesetzentwurf zeitnah?

Die Ampel will – möglicherweise sehr zeitnah über einen eigenen Gesetzentwurf - ein Modell auf den Weg bringen, das die Aufblähung des Bundestags wegen der Überhang- und Ausgleichsmandate verhindert und in aller Regel immer zu einem Bundestag mit 598 Sitzen führt. Das ist die gesetzliche Ausgangsgröße – doch 2017 kamen 709 Mandate zusammen und im vorigen Jahr sogar 736. Nach dem Ampel-Modell würde grundsätzlich weiter so verfahren wie bisher, aber im Fall, dass in einem Bundesland bei einer Partei Überhänge entstehen, würden dieser Partei weniger Direktmandate zugeteilt – und zwar immer die mit den schwächsten Erststimmenanteilen.

Dieses „Kappungsmodell“ hätte 2021 dazu geführt, dass der CDU zwölf, der CSU elf und der SPD zehn Direktmandate abhandengekommen wären. Am stärksten hätte es bei den Sozialdemokraten das Land Brandenburg betroffen. Drei von zehn Direktmandaten wären nicht zugeteilt worden. Derzeit geht die Landesgruppe davon aus, dass es auf der Basis aktueller Umfragen sogar vier sein könnten.

Der Grund: Die SPD ist zwar stark genug, um alle Direktmandate im Land zu gewinnen, aber das Zweitstimmenergebnis ist nicht stark genug, um Überhänge zu verhindern. Die entstehen immer, wenn eine Partei mehr Wahlkreise gewinnt (und damit Direktmandate), als ihr nach dem Parteienproporz (der mit der Zweitstimme ermittelt wird) zustehen. Ähnlich ist die Situation in Mecklenburg-Vorpommern. Auch in Schleswig-Holstein, Hessen, Niedersachsen und im Saarland hätte es gekappte SPD-Direktmandate gegeben. "Die Verkomplizierung des Wahlrechts kann nicht die Antwort auf einen zu großen Bundestag sein", sagte der hessische Bundestagsabgeordnete Kaweeh Mansoori dem Portal "Pioneer".

In der Fläche - und in Großstädten

Die Brandenburger Landesgruppe verweist auf eine Wirkung des Kappungsmodells, das ähnlich auch die CSU berührt. Ganze Regionen würden so „systematisch von einem SPD-Bundestagsmandat ausgeschlossen, was zu einer Schwächung der Wirkung der SPD in der Fläche sowie der Parteistrukturen vor Ort führen wird“; heißt es in dem Positionspapier. Während das Problem bei der SPD im Osten eher ländliche Wahlkreise betrifft, sind es bei der CSU die Großstädte – sie hätte 2021 alle Direktmandate in München, Nürnberg, Augsburg, Fürth und Erlangen verloren.

Kritisch sehen die Brandenburger Genossen auch eine Regelung im Ampel-Vorschlag, dass in „Kappungswahlkreisen“ über eine Ersatzstimme („dritte Stimme“) bestimmt werden soll, welche Bewerber einer anderen Partei zum Zuge kämen und ein Direktmandat zugeteilt bekämen. Gerade dieser Punkt wird von Wahlrechtsexperten als verfassungsrechtlich bedenklich eingestuft. Eher wahlpraktisch merken die Brandenburger Sozialdemokraten an, dass im Wahlkampf dann auch noch „die Nutzung der dritten Stimme und die bewusste Entscheidung für eine andere Partei und Person erklärt werden müsste“.

Es gibt Bedenken

Die Unions-Fraktion hat schon angekündigt, sie werde nach Karlsruhe gehen, sollte die Ampel das Modell umsetzen – was diese ohne Weiteres kann, denn das Wahlrecht kann mit einfacher Mehrheit beschlossen werden. Ob das Kappen von Direktmandaten wirklich grundgesetzwidrig ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Doch es gibt auch wahlpolitische Bedenken. In Zeiten, in denen Umfragen bis in den Wahltag hinein veranstaltet werden, sind diese von Belang.

Zwar nehmen Umfragen das Wahlergebnis nicht vorweg, aber sie haben Einfluss auf das Wahlgeschehen. Aus Umfragen lässt sich ableiten, ob es in einem Land zu einer Überhangsituation kommen könnte. Zudem gibt es seit längerem auch öffentliche Prognosen bis hinunter auf Wahlkreisebene. Die potenziellen „Kappungskandidaten“ lassen sich somit mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ausmachen.

In diesen Wahlkreisen aber verändert sich damit der Wahlkampf. Die Konkurrenz eines potenziellen Wahlkreissiegers kann der Wählerschaft vermitteln, dass die Stimme wertlos sei – weil das Direktmandat ohnehin gekappt werde. Bezogen auf die CSU könnte das in den bayerischen Großstadtwahlkreisen immer wieder der Fall sein. Oder in den eher ländlichen Wahlkreisen in Brandenburg mit Blick auf die SPD. Es läuft letztlich auf die Frage der Chancengleichheit von Direktkandidaten hinaus.

Warum die Schlechteren?

In der Beschlussvorlage der Ampel-Obleute für die Regierungsfraktionen vom Dienstag heißt es, das Modell schließe die Entstehung von Überhangmandaten aus. Das ist tatsächlich nicht der Fall – sonst müsste nicht gekappt werden. Nach dem Papier trifft es die „Kandidierenden mit den relativ schlechtesten Erststimmenergebnissen“ – bei ihnen liegt also die „Zweitstimmendeckung“ nicht mehr vor, die im Ampel-Modell für die Zuteilung eines Direktmandats nötig sein soll. Das mag auf den ersten Blick logisch erscheinen, weil es dann Kandidaten und Kandidatinnen trifft, deren demokratische Legitimation als geringer erscheint.

Doch wenn Mehrheitswahl gilt, und das ist im Ampel-Vorschlag weiterhin der Fall, ist es schwierig, hier eine Hierarchie zu bilden. Zudem lässt sich in einer Überhangsituation gar nicht konkret entscheiden, welches die Überhangmandate eigentlich sind. Denn die ungenügende Zweitstimmendeckung gilt zunächst für alle Direktmandate. Statt diejenigen mit den schwächsten Ergebnissen zu kappen, könnte auch ausgelost werden, wer nicht in den Bundestag kommt.

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