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Vorbereitung einer Invasion oder nur ein Manöver? Russische und belarussische Truppen üben gemeinsam im nördlichen Nachbarland der Ukraine.

© Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa

Appell von Rüstungskontrollexperten: „Gemeinsamkeiten ausloten, wenn auf politischer Ebene Sprachlosigkeit herrscht“

Wie lässt sich das Verhältnis zu Russland entspannen, solange der politische Ausgleich stockt? Experten aus den USA, Russland und Deutschland sehen einen Weg. Ein Interview.

Von Hans Monath

Die „Deep Cuts Commission“ (deepcuts.org) ist eine 2013 gegründete unabhängige Kommission aus 24 US-amerikanischen, russischen und deutschen Rüstungskontrollexpertinnen und –experten. Seit letztem Jahr wird die Kommission durch eine trilaterale Gruppe von Nachwuchwissenschaftlerinnen und -experten ergänzt („Young Deep Cuts Commission“). Das Vorhaben wird vom Auswärtigen Amt finanziert. Oliver Meier vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg ist einer ihrer Projektmanager.

Herr Meier, sie appellieren an die USA, Russland und die Nato, Gespräche über die Reduzierung von Nuklearwaffen zu vertiefen, Konfrontation abzubauen sowie Mechanismen zur Risikominimierung und gegenseitigen Vertrauensbildung zu etablieren. Während sich die Welt vor einem Krieg in Osteuropa fürchtet, sieht Ihre Organisation die Chance für Fortschritt – wie passt das zusammen?

Unser Ansatz ist genau andersherum. Wir sagen, dass mit Rüstungskontrolle, Vertrauensbildung und Risikoreduzierung ein Instrumentarium bereitsteht, mit dem sich diese Krise entschärfen lässt und die Gefahr eines Krieges gemindert werden kann. Wenn der politische Wille vorhanden ist, die Krise zu entspannen, dann kann Rüstungskontrolle helfen, diesen Weg zu beschreiten. In der Debatte über die russischen Forderungen nach Sicherheitsgarantien der Nato haben beide Seiten erklärt, dass sie auch über Rüstungskontrolle und Risikoreduzierung reden wollen - auch wenn sie dabei unterschiedliche Akzente gesetzt haben. US-Vizeaußenministerin Wendy Sherman etwa hat im Januar nach ihrem Treffen mit dem russischen Amtskollegen Sergej Ryabkov in Genf die Stationierung von Raketen in Europa als Thema genannt und dies haben beiden Seiten auch in ihren schriftlichen Angeboten als Problem identifiziert. Hier gibt es eine inhaltliche Schnittmenge zwischen den Interessen der USA und Russland. Verhandlungen über solche Themen könnten helfen, die Lage zu entschärfen.

Was schlagen Sie im Hinblick auf Atomwaffen genau vor?

Die Nato-Staaten und Russland sollten sich gegenseitig über ihre jeweilige Nuklearstrategie informieren und sich bereit erklären, Fragen der anderen Seite dazu zu beantworten. Ein solch direkter Austausch kann Missverständnissen vorbeugen, wie wir auch aus der Vergangenheit wissen. Die USA und Russland sollten schnellstmöglich Verhandlungen über ein ausgewogenes, verifizierbares Moratorium zur Stationierung von Mittelstreckenraten zwischen dem Atlantik und dem Ural aufnehmen. Als vertrauensbildende Maßnahme sollte die Nato russischen Experten Transparenzbesuche auf ihren Basen zur Abwehr iranischer Raketen in Polen und Rumänien ermöglichen. Die in Rumänien ist schon in Betrieb, die in Polen im Aufbau. Umgekehrt sollte Russland Experten der Nato Transparenzbesuche auf zwei Basen der umstrittenen russischen Raketen ermöglichen. Die Nato wirft Russland vor, dass bestimmte Systeme gegen den mittlerweile gekündigten Vertrag über landgestützte Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) verstoßen haben. Ein Zentrum für Risikoreduzierung könnten einen direkten Draht zwischen den Befehlshabern in der Nato und in Russland herstellen. Das kann im Fall einer akuten Krise sehr wichtig sein.

Der Politikwissenschaftler Oliver Meier ist Mitarbeiter des Instituts für für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und einer der Projektmanager der "Deep Cuts Commission".
Der Politikwissenschaftler Oliver Meier ist Mitarbeiter des Instituts für für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und einer der Projektmanager der "Deep Cuts Commission".

© SWP

Heißt das, die „Deep Cuts Commission“ macht keine Vorschläge zum politischen Kernproblem, ob sich die Nato weiter nach Osten ausdehnen darf oder nicht?

Auf diese Frage der europäischen Sicherheitsarchitektur sind wir in der Vergangenheit eingegangen. In diesem aktuellen Statement nehmen wir dazu nur insofern Stellung, als wir beide Seiten auffordern, die gegenseitigen Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen. Unsere Kommission arbeitet aber an einem umfassenderen Bericht, der bis Mitte des Jahres fertig werden soll. Wir argumentieren, dass Vertrauensbildung und Transparenz Mittel sein können, um diese aktuelle Krise zu entschärfen und damit überhaupt erst die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass die Nato und Russland in einem anderem Modus über die politischen Fragen europäischer Sicherheit sprechen können.

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Sie appellieren an beide Seiten, bei größeren Manövern Zurückhaltung zu üben und früher Beobachter der anderen Seite zu Übungen nahe der Grenze zwischen der Nato und Russland einzuladen, als das heute vorgeschrieben ist. Klingt das nicht etwas zynisch angesichts der Tatsache, dass Russland eine Invasionsarmee an der Grenze zur Ukraine aufgefahren hat, ohne Transparenz zu schaffen?

Wir erheben sicher auch Forderungen, die über das hinausgehen, was im Moment politisch von einer oder von beiden Seiten akzeptiert wird. Darüber haben wir kontrovers diskutiert. Aber die gesamte Kommission ist der Meinung, dass beide Seiten zumindest zeitweise und über die Regeln des Wiener Dokuments über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen von 2011 über Manöver hinausgehend militärische Transparenz schaffen sollten. Solange eine der beiden Seiten glaubt, dass sie durch eine Verschärfung der militärischen Lage Vorteile findet, kann ein solcher Ansatz nicht zum Tragen kommen, das ist klar. Aber wenn grundsätzlich das Interesse da ist, diese Krise zu entschärfen, halten wir das von uns vorgeschlagene Instrumentarium für hilfreich – und zwar auch für den Fall, dass vorher noch keine Einigung über die schwierigen Fragen der europäischen Sicherheitsarchitektur erzielt ist.

Was passiert mit der Rüstungskontrolle von Nuklearwaffen, wenn es zu einem militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine kommt?

Zum Fall eines Krieges hat die Kommission in diesem Statement kein Urteil abgegeben, deshalb kann ich hier nur meine persönliche Meinung sagen. Rüstungskontrollinstrumente werden auch dann nicht obsolet werden, auch Russland hat weiter Interesse an ihnen. Russland ist gegenwärtig Teilnehmer der Verhandlungen über die Rettung des Atomabkommens mit dem Iran in Wien, die auf einem guten Weg scheinen. Es ist bemerkenswert, dass Russland der Versuchung widerstanden hat, seine Haltung in den Atomverhandlungen von Wien als Hebel gegen den Westen einzusetzen. Auch die Gespräche über eine Nachfolgeregelung für den New START Vertrages über die Begrenzung strategischer Atomwaffen gehen trotz Ukraine-Krise weiter. Einen vollkommen unbegrenzten Rüstungswettlauf wollen weder Washington noch Moskau – zum Glück.

Gibt es noch gemeinsame Interessen des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des Westens? Friedensforscher Oliver Meier bejaht die Frage.
Gibt es noch gemeinsame Interessen des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des Westens? Friedensforscher Oliver Meier bejaht die Frage.

© Alexei NIKOLSKY/Sputnik /AFP

Das heißt, jenseits der Themen, die gerade im öffentlichen Interesse stehen, nimmt Russland eine konstruktive Haltung ein?

Wie gesagt, das ist weiter meine persönliche Meinung: Dieser Großmächtekonflikt schlägt nicht auf alle anderen Themen durch, auch nicht auf die Atomverhandlungen mit dem Iran. Da geht es um das globale Gut der Nichtverbreitung von Atomwaffen. Weder Russland noch China haben ein Interesse an einem atomar aufgerüsteten Iran.

Als Kommission haben wir uns die Dokumente genau angesehen, die zwischen der Nato und Washington auf der einen, Russland auf der anderen Seite im aktuellen Konflikt ausgetauscht wurden. Wir stellen fest: Die Schnittmenge zwischen beiden Seiten in Bezug auf eine rüstungskontrollpolitische Agenda ist heute größer als vor der Zuspitzung der Krise um die Ukraine. So hat die US-Regierung prinzipielle Gesprächsbereitschaft im Hinblick auf den Vorschlag des russischen Präsidenten Wladimir Putin für ein Moratorium für Mittelstreckenwaffen erkennen lassen, auch wenn Washington hier insbesondere die russischen Fähigkeiten im Blick hat, während Russland die Stationierung weiterer amerikanischer Waffen ausschließen will und den Abzug von US-Atomwaffen aus Europa fordert. Außerdem stellten die USA erstmals Transparenzmaßnahmen für die Nato-Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien in Aussicht.

In den vergangenen Jahren hat Europa eine Erosion des Rüstungskontrollregimes zu Nuklearwaffen erlebt, Abkommen wurden aufgekündigt oder liefen aus. Haben Vorschläge der „Deep Cuts Commission“ in der Vergangenheit eine politische Wirkung gezeigt?

So etwas ist im Einzelfall schwer zu belegen. Aber bei uns arbeiten Expertinnen und Experten zusammen, die engen Kontakt in ihre jeweiligen Regierungen haben und teilweise viel Erfahrung als Entscheidungsträger haben. Sie wissen, wie dort die Politik funktioniert – und sie können die Analysen, auf die wir uns einigen, in ihren Hauptstädten auch zu den Entscheidern tragen. Es geht in einer trilateralen Kommission darum, auch dann Gemeinsamkeiten auszuloten, wenn auf politischer Ebene Sprachlosigkeit vorherrscht. Der Weg zu solchen Kompromissen ist dabei oft genauso interessant wie das Ergebnis, denn wir diskutieren ja nicht in einem politischen Vakuum. Und einzelne Befunde oder Vorschläge unserer Kommission haben wohl in die Entscheidungsfindung Eingang gefunden und dürften damit politisch wirksam geworden sein. Deshalb hoffen wir auch im Hinblick auf unseren jüngsten Vorschlag, dass er Gehör findet und Wirkung zeigt.

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