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Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales sowie stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD ; fotografiert beim Interview in seinem Büro im Ministerium in Berlin-Mitte.

© Thilo Rückeis

Arbeitsminister Hubertus Heil: „Ich halte zwölf Euro Mindestlohn perspektivisch für richtig“

Hubertus Heil erklärt, warum die SPD noch lange nicht abgeschrieben ist – und wie er den Arbeitsmarkt krisenfest machen will. Ein Interview.

Wilhelm Busch, ein bekannter Niedersachse, hat gesagt: “Wer Sorgen hat, hat auch Likör”. Wieviel Likör mussten Sie zuletzt trinken, um die Geschehnisse in der SPD zu verdauen?
Erstens mag ich keinen Likör. Zweitens bin ich ein Mensch mit realistischer Zuversicht. Mein Blick geht also nach vorn. Wenn es gelingt, deutlich zu machen, was wir leisten und was wir vorhaben, dann wird 2020 ein gutes Jahr.

Es gibt ein Feuerwerk an Vorschlägen der neuen Vorsitzenden, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans – fast nichts davon wird in der großen Koalition umgesetzt werden können und bei Umfragen steht die SPD bei 13 Prozent ...
Die SPD hat in der Bundesregierung bereits eine Menge für unser Land erreicht, und wir haben noch viel vor - in dieser Koalition und darüber hinaus. Das haben wir auf dem Parteitag beschlossen. Es geht um zentrale Ziele der Sozialdemokratie für die 20er Jahre in Deutschland. Wir wollen unsere Wirtschaft und Gesellschaft so weiterentwickeln, dass aus Digitalisierung sozialer Fortschritt wird. Und wir setzen auf innovativen und sozialen Klimaschutz und stärken Europa. Diese Aufgaben werden wir in der SPD-Parteiführung gemeinsam angehen.

Selbst Peer Steinbrück kritisiert seit Jahren, dass die SPD als Krankenwagen und Rohrabdichter der Gesellschaft zu wenig ist. Wo ist denn die große Erzählung der alten Arbeiterpartei und ihre Aufgabe in modernen Zeiten?
In Zeiten rasanter Veränderungen gibt es eine große Sehnsucht nach grundsätzlicher Orientierung. Politik muss aber immer auch konkrete Lösungen liefern. Als Minister leiste ich meinen Beitrag dazu. Es ist die große Aufgabe der Sozialdemokratie, die digitale Transformation so zu gestalten, dass sie nicht zu Spaltungen führt, sondern zu besseren Lebenschancen für alle Menschen.

Hört sich schön an, aber in der Realität trauen viele Bürger der SPD diese Rolle nicht mehr zu – wie erklären Sie sich den dramatischen Vertrauensverlust?
Im letzten Jahr hatten viele Menschen das Gefühl, dass die SPD sich nach den personellen Auseinandersetzungen vor allen Dingen um sich selbst dreht und mit sich selbst beschäftigt. Jetzt werden wir deutlich machen, was wir für die Bürgerinnen und Bürger und unser Land anpacken. Es geht darum, diese Gesellschaft zusammenzuhalten und gerade auch etwas für die arbeitende Mitte in diesem Land zu tun.

Einigen ist der Kurs der neuen Parteiführung zu links. Harald Christ hat als Mittelstandsbeauftragter hingeschmissen, der frühere Chef der Bundesagentur für Arbeit, Florian Gerster, ist zur FDP übergelaufen.
Ich bedaure jeden Austritt. Aber die spannende Frage ist ja: Wie kriegt man neues Vertrauen hin? Nur durch gute Arbeit.

Viele Menschen fürchten sich, dass es für sie bald keine Arbeit mehr geben wird, weil die von einer Künstlichen Intelligenz übernommen wird.
Trotz aller Umbrüche am Arbeitsmarkt wird uns auch in Zukunft in Deutschland die Arbeit nicht ausgehen. Wir haben derzeit eine gute Lage am Arbeitsmarkt. Wir haben den höchsten Stand sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung seit der deutschen Einheit. Es gibt Bereiche, in denen der technische Fortschritt menschliche Arbeit ersetzen wird – etwa bei Handel, Banken und Versicherungen.

Im produzierenden Gewerbe zum Beispiel ändern sich die Qualifikationsanforderungen. Bei den sozialen Dienstleistungsberufen, gerade in der Pflege, wird die Nachfrage nach menschlicher Arbeit steigen.

Was plant der Bundesarbeitsminister, um den Arbeitsmarkt nach einem goldenen Jahrzehnt krisenfest für rauere Zeiten zu machen?
Beim Thema Digitalisierung muss die Bundesregierung ihre Arbeit beschleunigen - da bin ich mir mit der Kanzlerin sehr einig. Ich habe ein Arbeit-von-morgen-Gesetz erarbeitet, das wir jetzt in der Koalition diskutieren und zügig auf den Weg bringen müssen. Im Kern geht es darum, dass die Beschäftigten von heute auch die Arbeit von morgen machen können.

Deshalb müssen wir die Förderung von Weiterbildung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern weiter ausbauen. Wenn Sie etwa an die Veränderungen in der Automobilwirtschaft durch Digitalisierung, umweltfreundlichere Antriebe und autonomes Fahren denken, müssen wir dafür vor allen Dingen die Beschäftigten in der Zulieferindustrie unterstützen.

Und: Im Falle von wirtschaftlichen Einbrüchen müssen wir die Kurzarbeitsregelungen bereit halten und, wo immer es geht, mit Qualifizierung verbinden. Wir haben im Moment nicht alle Instrumente, die wir zum Beispiel in der Finanzkrise 2008/09 zur Verfügung hatten.

Welche meinen Sie?
Wir können zwar die Kurzarbeitsregeln von zwölf auf 24 Monate verlängern. Aber wir können beispielsweise nicht, was manchmal notwendig ist, Sozialversicherungsbeiträge übernehmen. Mein Vorschlag ist, dass wir die Sozialversicherungsbeiträge für Kurzarbeit ab sofort übernehmen - wenn Kurzarbeit zugleich mit Qualifizierung verbunden wird. Bisher können wir Kurzarbeit nur dann ausweiten, wenn wir insgesamt eine Störung des deutschen Arbeitsmarktes haben.

Die haben wir aber derzeit nicht. Ich bin deswegen dafür, dass wir die notwendigen Instrumente auch einsetzen können, wenn es in einzelnen Branchen und Regionen zu arbeitsmarktpolitischen Problemen kommt. Wir brauchen bessere Regeln, um Menschen an Bord und in Beschäftigung zu halten. Wirtschaftlich erfolgreich bleiben wir, indem wir nicht nur auf Ausbildung und Bildung setzen, sondern auch auf Qualifizierung und Weiterbildung. Da ist große Luft nach oben, um auf einen Einbruch besser vorbereitet zu sein. Wir dürfen hier keine Zeit mehr verlieren.

Hat der Staat den Wandel verschlafen?
Nein - noch haben wir die Chance auf den Wandel der Arbeitswelt zu reagieren. Das gilt für Industrie- und Innovationspolitik genauso wie für die Ordnung am Arbeitsmarkt.

Der digitale Wandel schafft aber auch neue Prekariate. Das haben wir bei den Paketboten gesehen. Es gibt hier seit dem Herbst ein Schutzgesetz. Welche Branche macht Ihnen im Moment besonders große Sorgen?
Das Thema Handel und Logistik ist ein gutes Beispiel dafür, da erleben wir Umbrüche und neue Erwerbsformen, in denen Digitalisierung oftmals auch mit Ausbeutung verwechselt wird. Wir werden uns das Thema der Plattformökonomien nochmal vornehmen müssen, über die menschliche Arbeit vermittelt wird, etwa für Fahrradkuriere. Der soziale Schutz und auch die Rechte von Beschäftigten dürfen auf diesen Plattformen nicht unter die Räder kommen.

Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales sowie stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD ; fotografiert beim Interview in seinem Büro im Ministerium in Berlin-Mitte.
Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales sowie stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD ; fotografiert beim Interview in seinem Büro im Ministerium in Berlin-Mitte.

© Thilo Rückeis

Die heutige finnische Ministerpräsidentin hat vor einiger Zeit vorgeschlagen, die Vier-Tage-Woche einzuführen und Arbeitstage mit sechs Stunden. Wäre das auch ein Modell für Deutschland?
Wir brauchen mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten. Viele Beschäftigte haben ein Bedürfnis nach mehr Zeitsouveränität. Viele Jüngere wollen nach der Ausbildung erstmal im Job in Vollzeit reinhauen. Dann kommen die Kinder, bei denen viele die Arbeitszeit reduzieren oder sich partnerschaftlich aufteilen wollen.

Wenn die Kinder in die Pubertät kommen, will man vielleicht wieder Vollzeit arbeiten (lacht). Und wenn man Richtung Ruhestand geht, will man nicht von hundert auf null reduzieren. Was ich sagen will: Wir brauchen flexiblere Lösungen im Erwerbsleben, aber keine starren Modelle. Dabei geht es auch um die Frage, welche Regelungen wir für mobiles Arbeiten schaffen.

Die SPD fordert ein Recht auf Homeoffice …
Da wo es möglich und gewünscht ist, wollen wir mehr Möglichkeiten schaffen, mobil zu arbeiten. Natürlich geht das nicht überall: Wer in einer Bäckerei tätig ist, kann schlecht die Brötchen von zu Hause aus backen. Aber es gäbe schon heute viel mehr Möglichkeiten für mobiles Arbeiten, die noch nicht genutzt werden. Wichtig ist, dass es klare Verabredungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gibt. Manche befürchten ja zu Recht, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben dann zu sehr verschwimmen. Am Ende geht es darum, dass die Arbeit zum Leben passt - und nicht umgekehrt.

Die SPD hat auf ihrem Parteitag die Forderung nach zwölf Euro Mindestlohn beschlossen. Wie wollen Sie das gegen den Widerstand der Union umsetzen?
Ich halte zwölf Euro Mindestlohn perspektivisch für richtig. Wir müssen klären, in welchen Schritten eine solche Mindestlohnhöhe möglich ist. Die Mindestlohn-Kommission wird bis Juni Vorschläge machen, wie sich der Mindestlohn weiterentwickeln soll. Mal schauen, welche Spielräume die sehen.

Die Gewerkschaften halten die bisherige Anpassung für viel zu niedrig, dieses Jahr wurde der Mindestlohn um lediglich 16 Cent auf 9,35 Euro erhöht.
Ich kann mir vorstellen, dass die Mindestlohnkommission jetzt einen Vorschlag machen wird, der künftig eine höhere Anpassung vorsieht. Die Tariflöhne haben sich in den letzten Jahren ja ganz gut entwickelt.

Müssen Sie denn die Kriterien ändern, nach denen die Mindestlohnkommission über die Anpassung entscheidet?
Wir haben Wissenschaftler beauftragt, in diesem Jahr das Mindestlohngesetz zu evaluieren. Im Sommer werten wir gemeinsam aus, ob der Mechanismus geändert werden muss. Dann können wir auch klären, in welchem Zeitraum zwölf Euro realistisch sind.

Halten Sie das in den nächsten zwei oder drei Jahren für realistisch?
Man sollte das jedenfalls nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Ich habe mit Freude festgestellt, dass es auch auf dem CDU-Bundesparteitag Stimmen gegeben hat, die sagen, das kann nicht so bleiben, wir brauchen höhere Mindestlöhne. Mir ist aber auch etwas Anderes wichtig: Der Mindestlohn löst das Problem nicht allein, er kann immer nur eine absolute Lohnuntergrenze sein. Wir brauchen auch mehr Tarifbindung, in der Koalition müssen wir diskutieren, wie wir die stärken können.

Das Jahr 2020 wird ein wichtiges Jahr für die Rentenpolitik, im Frühjahr wird die Rentenkommission Vorschläge für eine langfristige Finanzierung machen. SPD-Chef Norbert Walter-Borjans will Gutverdiener stärker an der Rentenfinanzierung beteiligen durch eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze. Unterstützen Sie das?
Ich konzentriere mich derzeit auf die Umsetzung der vereinbarten Grundrente. Dann geht es um die Einbeziehung der Selbständigen in das System der Alterssicherung, und dann wird die Rentenkommission Vorschläge für die langfristige Finanzierung der Rente machen. Diese werden wir dann als SPD bewerten.

Aber was halten Sie denn nun konkret von dem Vorschlag?
Das müssen wir uns sorgfältig angucken. Ich bin mir mit Norbert Walter-Borjans einig, dass wir uns erst einmal die Vorschläge der Rentenkommission anschauen. Die Idee einer höheren Beitragsbemessungsgrenze kann man diskutieren - eine Abschaffung ist verfassungsrechtlich problematisch. Was wir uns im Bereich der Alterssicherung für die nächste Legislatur vornehmen, werden wir rechtzeitig im SPD-Wahlprogramm klären.

In diesem Jahr müssen Sie die Einführung der Grundrente für Geringverdiener gesetzgeberisch vorbereiten. Bereitet Ihnen die Umsetzung schlaflose Nächte?
Nein. Warum?

Es soll automatisch überprüft werden, ob jemand Anspruch auf die Grundrente hat. Dafür muss ein komplizierter Datenabgleich zwischen Rentenversicherung und Finanzverwaltung etabliert werden.
Mir ist bewusst, dass das sehr sportlich ist. Aber ich bin sicher, dass wir das hinbekommen. Ich glaube, es gibt auch deswegen Verdruss über diesen Sozialstaat, weil wir den Bürgern so viel zumuten.

Da wäre es doch ein riesiger Fortschritt, wenn wir sie mal nicht mit ellenlangen Formularen behelligen, sondern der Staat für sie prüft, ob sie Anspruch haben. Wenn dieses Projekt gelingt, ist das also auch ein Projekt für die Modernisierung des Staates und mehr Bürgerfreundlichkeit.

Viele in der großen Koalition wünschen sich nach dem schwierigen Jahr mehr Aufbruchstimmung. CSU-Chef Markus Söder hat eine Kabinettsumbildung ins Spiel gebracht. Was halten Sie von der Idee?
Das muss jede Koalitionspartei für sich beantworten. Ich glaube, in der SPD haben wir genügend frische Köpfe. Ob CDU und CSU Köpfe austauschen wollen, müssen sie selbst klären.

Manche sagen, Sie könnten Finanzminister Olaf Scholz als Vizekanzler beerben.
Wir haben mit Olaf Scholz einen ausgezeichneten Vizekanzler und Finanzminister, mit dem ich sehr eng zusammenarbeite.

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