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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim World Holocaust Forum in Israel.

© REUTERS/Ronen Zvulun/Pool

ARD-Kommentar zum Holocaust-Gedenken: Wie die Tagesschau in einem Proteststurm landete

Ein Kommentar der Tagesschau zum Gedenktag in Yad Vashem trifft den falschen Ton und löst Empörung aus – auch in Israel. Doch wichtig ist der Kontext.

Erleichtert ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf dem Rückflug nach Berlin, seine Mitarbeiter umarmen sich. Was für eine historische Geste, dass der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin Steinmeier sogar umarmt hat nach seiner nichts relativierenden, auch das neuerliche Erstarken des Antisemitismus in Deutschland nicht verschweigenden Rede in Yad Vashem.

Mit an Bord ist auch eine Hörfunk-Korrespondentin der ARD, die nach der Landung um Mitternacht in Berlin-Tegel mit einem veritablen Proteststurm im Netz konfrontiert ist. Sie hat einen Kommentar geschrieben, der misslungen ist – und einen falschen, missverständlichen und nicht angemessenen Ton trifft.

ARD-Kommentar trifft falsche Tonalität

Sie schreibt von einer „vertanen Chance“, die am stärksten kritisierte Passage lautet: „Unwürdig war dagegen, wie Israel und Russland diesen Gedenktag teilweise kaperten. Wie sie vor der offiziellen Veranstaltung sozusagen ihre eigene politische und erinnerungspolitische Privatparty feierten – mit neuen Verbalattacken gegen Polen und demonstrativ überlangen bilateralen Gesprächen zwischen Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und Präsident Wladimir Putin.“

Und weiter: „Wie sie die Einweihung eines Denkmals zur Erinnerung an die Belagerung Leningrads gnadenlos überzogen, wie sie 90-jährige, 100-jährige Holocaust-Überlebende eine Dreiviertelstunde lang in Yad Vashem warten ließen wie bestellt und nicht abgeholt - und dazu noch mehr als 40 Staats- und Regierungschefs.“

Sogar in Israel wird der Kommentar am Freitag zum Thema. „Deutsche Reporterin wirft Israel Missbrauch von Holocaust-Gedenken vor“, schreibt die „Jerusalem Post“.

Demütige Geste: Frank-Walter Steinmeier hielt eine bemerkenswerte Rede in Yad Vashem.
Demütige Geste: Frank-Walter Steinmeier hielt eine bemerkenswerte Rede in Yad Vashem.

© imago images/UPI Photo

An der falschen Tonalität des Kommentars gibt es nichts zu diskutieren – der Begriff „Privatparty“ ist an einem solchen Tag unangebracht. Die Juden wie Russland als Kernland der früheren Sowjetunion hatten die größten Opfer durch die Nationalsozialisten zu beklagen. Es wird von rund sechs Millionen ermordeten Juden und 20 Millionen Toten aus der Sowjetunion ausgegangen.

Die Juden sowie Russland haben die größten Opfer im Zweiten Weltkrieg zu beklagen

Was aber auch wichtig ist: Der Kommentar wird unter anderem von der „Bild“-Zeitung - die keine Reporterin oder keinen Reporter in der Pressebegleitung Steinmeiers hatten - teilweise aus dem Kontext gerissen. Denn die Kritik der Hörfunk-Korrespondentin der ARD bezieht sich nicht auf die Gedenkveranstaltung in Yad Vashem, sondern auf das Drumherum.

In der Tat war es vor allem Wladimir Putin, der erneut seine Macht demonstrieren wollte, alle Zeitpläne durcheinanderbrachte und den Tag auch für seine Interessen kaperte.

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Nicht dagegen Israel – wenngleich dem israelischen Premier Benjamin Netanjahu noch etwas anderes an diesem Tag sehr wichtig war, was ihm im aktuellen Wahlkampf helfen soll: So trifft sich der russische Präsident zunächst mit der Mutter von Naama Issachar, einer jungen Israelin, die im vergangenen April in Moskau festgenommen und zu 7,5 Jahren Gefängnis verurteilt worden ist, weil in ihrem Gepäck auf einem Flug von Indien nach Israel bei einem Zwischenstopp 9,5 Gramm Cannabis gefunden wurden.

Der Fall belastet seit Monaten die Beziehungen zwischen Russland und Israel – israelische Medien vermuten eine Racheaktion für die Auslieferung eines russischen Bloggers von Israel an die USA. Auf dem Weg vom Flughafen sind in Tel Aviv Plakate mit der Aufschrift „Bringt Naama nach Hause“ zu sehen.

Israels Premier Netanjahu hat versprochen, Issachar zurückzuholen und setzt auf Putin. Dieser verspricht nach dem Treffen mit der Mutter, dass „alles gut“ werde. Netanjahu dankt „meinem Freund, dem Präsidenten“. Eine Freilassung kann Netanjahu für die erneute Parlamentswahl am 2. März helfen – im dritten Anlauf will er es mit einer neuen Regierungsmehrheit schaffen.

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Allein diese Episode bringt am Donnerstag den Zeitplan ins Wanken – dann folgt noch die pompöse Festveranstaltung, mit der Putin und Netanjahu im Jerusalemer Sacher-Park ein 8,5 Meter hohes Denkmal für die hunderttausenden Opfer der Blockade von Leningrad einweihen, am Ende wird die russische Nationalhymne intoniert.

Putin inszeniert die Sowjetunion als Befreier – und kommt 30 Minuten zu spät

Die Staats- und Regierungschefs sowie viele hochbetagte Überlebende müssen beim World Holocaust Forum (WHF) daher auf dessen Beginn warten. Und als es mit einer Stunde Verspätung los geht, kommt Putin auch dort mit fast 30 Minuten Verspätung an – er soll nochmal im Hotel gewesen sein, während Netanjahu dort pünktlich zum (stark verspäteten Beginn) im Saal sitzt. Mitbegründer des WHF ist übrigens der russische Oligarch Wjatscheslaw Mosche Kantor.

Russlands Präsident Putin, hier im Händedruck mit Israel Meir Lau, kam über eine Stunde zu spät.
Russlands Präsident Putin, hier im Händedruck mit Israel Meir Lau, kam über eine Stunde zu spät.

© imago images/UPI Photo

Putin inszeniert bei seinem Auftritt stark die Rolle der Sowjetunion als Befreier. Und versucht zu kaschieren, dass im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes die Aufteilung Polens durch Sowjets und Deutsche beschlossen wurde – mithin ein Umstand, der bei der aktuellen Diskussion rund um den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht vergessen werden sollte.

Wegen der Verspätungen sind unter anderem der französische Präsident Emmanuel Macron und US-Vizepräsident Mike Pence nicht bis zum Ende der Gendenkveranstaltung da.

Aber und das ist neben Misstönen - und Missdeutungen - vielleicht das wichtigste Ergebnis dieser bisher größten politischen Veranstaltung in der Geschichte Israels: Die Opfer des Holocaust, die Befreier und Siegermächte und der Bundespräsident des Tätervolkes haben würdig, mit den meist richtigen Worten und gemeinsam an das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte erinnert – das kann eine Basis sein für den heutigen Kampf gegen eine Wiederkehr des Antisemitismus.

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