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Russlands Präsident Wladimir Putin bei seiner Fernsehansprache

© dpa/Aleksey Nikolskyi/Sputnik

Update

Aufmarsch in der Ostukraine: Putin lässt die Maske fallen - warum es ihm um die ganze Ukraine geht

Es eine Kriegsrede, die historisch werden dürfte. Putin sieht die Ukraine als Teil Russlands und gibt den Marschbefehl. Kanzler Olaf Scholz reagiert umgehend.

Kurzfristig wendet sich Wladimir Putin am Montagabend im Fernsehen an sein Volk. Es ist eine düstere Ansprache. Der russische Präsident greift weit in die russische Geschichte zurück, zu Stalin, Lenins Fehlern und er betont: „Die Ukraine ist ein untrennbarer Teil unserer Geschichte.“ Er sieht den heutigen Staat nur als ein Konstrukt.

Es wirkt wie eine Kriegserklärung - auch an den Westen. In der Rede entblößt Putin seine wahren Motive. Jeder, der noch an diesen zweifelt, sollte sich dieses Dokument anschauen. Es wird noch Historiker beschäftigen.

Nur ein paar Stunden später wird er den Einmarschbefehl in die Ostukraine geben. Angeblich, um dort den Frieden zu sichern.

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Wie als Vorgriff auf das, was Putin in seiner Rede erklären sollte, hatte am Wochenende Kanzler Olaf Scholz (SPD) auf einen Aufsatz des russischen Machthabers aus dem vergangenen Jahr erinnert. Er hatte sich bei der Sicherheitskonferenz in München fast etwas lustig darüber gemacht: „Putin hat sich ja als Historiker betätigt und Texte geschrieben“, meinte Scholz. „Das hat auch im Gespräch mit ihm eine große Rolle gespielt.“ 

In diesem Aufsatz (auf englisch hier) sieht Putin Russen, Ukrainer und Belarussen als historisch gesehen „ein Volk“, der Zusammenbruch der Sowjetunion war für ihn eine Katastrophe. Und Putin verweist darin auf eine Bezeichnung von Kiew als „Mutter aller russischen Städte“.

Ganz ähnlich ist die Rede intoniert. Es geht Putin demnach nicht um das Minsker Abkommen oder ein Nato-Beitrittsmoratorium, sondern er reklamiert die Ukraine als historischen Bestandteil des großrussischen Reiches.

Was ist der Kern der Rede?

Im Laufe des Montages hatten sich die Dinge zugespitzt. Putin berief seinen nationalen Sicherheitsrat ein. Dessen Zusammenkunft wirkt wie eine Inszenierung im Kreml, um sein offensichtlich längst geplantes Vorgehen absegnen zu lassen. Die Rede wirkt wie eine historische Rechtfertigung für das, was kommen mag. Hier die eindrücklichsten und für den Westen wohl beunruhigendsten Passagen:

  • Die demokratische Maidan-Bewegung habe die Ukraine in einen Bürgerkrieg geführt. Die Ukraine sei ein gespaltenes Land, Millionen seien ins Ausland geflohen, um Arbeit zu finden. Armut und Spaltung seien die Folgen der Maidan-Bewegung.
  • Dem Land sei es nicht gelungen, ein stabiler eigener Staat zu sein. Will heißen, es brauche Russland als Schutzmacht. Das Erbe des russischen Imperiums sei verraten worden. Die Menschen seien betrogen, blühende Landschaften ihnen versprochen worden.
  • Die Staatsführung in Kiew sieht Putin als „Marionetten-Regime“ des Westens. “Alles gehorcht den ausländischen Organisationen“, sagt der frühere KGB-Mann mit kaltem Blick. Die Arbeit der Gerichte werde vom Westen diktiert.
  • Und er wirft der Ukraine vor, mit westlicher Hilfe Atomwaffen bauen zu wollen. Dies komme Vorbereitungen für einen Angriff auf Russland gleich, sagt Putin. Die Ukraine habe das Atom-Know-How aus der Sowjetzeit. Wenn die Ukraine in den Besitz von Massenvernichtungswaffen komme, werde sich die globale Lage drastisch ändern.

Es ist eine Verdrehung der Tatsachen, eine Aneinanderreihung an, man muss es so sagen, Lügen. Das kennt man aus anderen historischen Momenten, als Kriegsgründe für die Rechtfertigung gegenüber der eigenen Bevölkerung gesucht wurden. Im Kanzleramt sehen sie die Lage schon am Morgen als „extrem gefährlich“, am Abend ist es noch viel brenzliger.

Was ist die erste Folge?

Putin unterzeichnet ein Dekret zur Anerkennung der abtrünnigen Provinzen in der Ost-Ukraine, er erkennt also die so genannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk auf dem Staatsgebiet der Ukraine als unabhängige Staaten an - Scholz und Macron wurden vorab von Putin informiert.

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Putin versucht die Gebiete also ganz offiziell wie die Krim von der Ukraine zu trennen und sichert de facto militärischen Beistand zu, sollte die Ukraine das nicht akzeptieren.

Er unterzeichnet auch einen Kooperations- und Freundschaftsvertrag mit den abtrünnigen Regionen in der Ostukraine. Das russische Staatsfernsehen überträgt die Zeremonie, an der Vertreter der Separatisten teilnehmen.

Es wirkt wie orchestriert. Aber seine Aussagen deuten darauf hin, dass er es tatsächlich auf eine großangelegte Invasion anlegen könnte, dass also mehr als 150.000 Soldaten nicht nur Drohkulissen waren, um dem Westen zum Beispiel ein Nato-Beitrittsmoratorium für die Ukraine abzupressen.

Wie könnte ein Einmarsch aussehen?

Wie befürchtet dreht Russland die Tatsachen auch hier um, versucht die Ukraine, der man mehrere Regionen einfach abspricht - was ein klarer Bruch des Völkerrechts ist - als Aggressor darzustellen. Russland droht der Ukraine nach der Anerkennung der Regionen Luhansk und Donezk bei militärischen Provokationen mit Konsequenzen. Kiew habe „militärische Pläne“ und würde Luhansk und Donezk beschießen und provozieren. Nach der Anerkennung durch Moskau könne dies „äußerst gefährliche Folgen haben“, sagte der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja bei einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates in New York. „Wir beabsichtigen nicht, ein neues Blutbad im Donbass zuzulassen.“

Beim Besuch vor einer Woche hatte Kanzler Olaf Scholz noch Hoffnung, auf Wladimir Putin einwirken zu können.
Beim Besuch vor einer Woche hatte Kanzler Olaf Scholz noch Hoffnung, auf Wladimir Putin einwirken zu können.

© Mikhail Klimentyev/Sputnik/AFP

Es wirkt, als solle ein größeres Eingreifen provoziert werden. Noch ist die Lage etwas unklar. In den Außenbezirken der Stadt Donezk rollten am frühen Dienstagmorgen Militärfahrzeuge durch die Straßen. Darunter waren auch mehrere nicht gekennzeichnete Panzer, wie ein Reuters-Mitarbeiter berichtete. Es mag Zufall sein - der von Putin angeordnete russische Einmarsch in Georgien begann am 8.8.08, der in der Ostukraine könnte am 22.2.22 beginnen.

Auf der Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrats bezeichnete die US-Gesandte Linda Thomas-Greenfield die Behauptung von Putin, es würde sich bei den entsendeten russischen Truppen in der Ost-Ukraine um Friedenstruppen handeln, als „Unsinn“. Putins Anerkennung der Separatistengebiete sei ein Versuch, einen Vorwand für eine weitere Invasion der Ukraine zu schaffen. Sein Schritt habe „das Minsker Abkommen in Stücke gerissen“.

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Hat Putin mit Scholz, Macron und Biden nur gespielt?

Diesen Eindruck muss man fast haben, all die stundenlangen Gespräche, die Ankündigung eines dann nicht erfolgten Teilabzugs wirken nun in anderem Licht. Will Putin eine aus seiner Sicht historische Mission für eine Wiederherstellung eines großrussischen Reichs erfüllen?

Belarus ist de facto schon ein Satellitenstaat, Machthaber Alexander Lukaschenko ist nur dank Putins Hilfe noch an der Macht und er musste die Stationierung zehntausender russischer Soldaten dulden.

Kanzler Scholz und der französische Präsident Macron hatten sich immer an das Normandie-Format und das Minsker Abkommen geklammert, um die Lage in der Ost-Ukraine durch eine weitgehende Autonomie zu befrieden. Mit der einseitigen Anerkennung als unabhängige Volksrepubliken hat Putin das Abkommen einseitig aufgekündigt, diese Verhandlungstür ist zu.

Noch am Morgen dieses 21. Februar 2022 hatte es neue Hoffnung gegeben - stundenlang hatte Macron am Tag zuvor in Telefonaten mit Putin und US-Präsident Biden versucht, ein Treffen der beiden Staatschefs zu organisieren.

Mehr zum Ukraine-Russland-Konflikt:

Macron hatte sich am Freitag mit Biden, dem britischen Premier Boris Johnson, Kanzler Scholz und anderen besprochen, um das gemeinsame Vorgehen festzulegen, heißt es in deutschen Regierungskreisen.

Daraufhin sprach Macron am Sonntag zwei Mal lange mit Putin, zudem telefonierte er mit Biden. Der US-Präsident erklärte sich „im Prinzip“ einverstanden mit einem Treffen, „aber nur unter der Bedingung, dass Russland nicht zuvor in die Ukraine einmarschiert“. Der Kreml lehnte so ein Treffen als „verfrüht“ ab. Hier war wohl schon klar, was kommen würde.

Vereinbart wurde, dass sich der russische Außenminister Sergej Lawrow und sein US-Kollege Antony Blinken am Donnerstag persönlich in Genf treffen sollen. Doch ob es dazu überhaupt noch kommt?

Warum wird nun Nord Stream 2 gestoppt?

Kurz nachdem Putin das Dekret unterzeichnet hatte, kündigten die EU und die USA Sanktionen gegen diejenigen an, die Verbindungen mit den anerkannten Volksrepubliken haben, zum Beispiel mit ihnen Geschäfte machen.

Da hier einseitig Grenzen verschoben werden, ist auch die von der Bundesregierung aufgestellte rote Linie überschritten, was ein Aus für die Ostseepipeline Nord Stream 2 zur Folge hätte. US-Präsident Biden hatte gesagt, wenn russische Panzer über die Grenze rollen, werde es kein Nord Stream 2 mehr geben. Und so kommt es dann auch: Kanzler Scholz lässt das Zertifizierungsverfahren stoppen.

Scholz spricht am Dienstag von einem schwerwiegenden Bruch des Völkerrechts. „Die Lage ist heute eine grundlegend andere“, sagt Scholz bei einer Pressekonferenz mit dem irischen Ministerpräsidenten Micheál Martin. Putin breche mit seinem Vorgehen im Osten der Ukraine nicht nur das Abkommen von Minsk, sondern auch die UN-Charta, die die Wahrung der territorialen Integrität und Souveränität von Staaten vorsehe.      

Es zeigt sich, dass die Mischung aus Diplomatie und Sanktions-Drohkulisse Putin bisher nicht beeindruckt hat. Seine Rede, die Vorwürfe gegen den Westen, das russische Fehlen bei der Sicherheitskonferenz in München, dem wichtigsten Forum in diesen Fragen weltweit, sind Indizien für einen neuen Ost-West-Konflikt.

Wird die Nato militärisch Kiew beistehen?

Das Vorgehen Putins wird gravierende Veränderungen nach sich ziehen, auch eine Aufrüstung in Europa, die Sorgen der baltischen Staaten und Polen dürften sich nun akut vergrößern. Scholz hat schon eine Erhöhung auch der deutschen Verteidigungsausgaben angekündigt. Er beriet sich am Abend nach Putins Rede erneut mit Macron und US-Präsident Biden. Einen militärischen Beistand der Ukraine hat man aber gemeinsam ausgeschlossen, auch die USA.

„Dieser Schritt wird nicht unbeantwortet bleiben“, betonten die drei Staats- und Regierungschefs nach dem Telefonat. „Der Bundeskanzler, der US-Präsident und der französische Präsident erklärten sich solidarisch mit der Ukraine und würdigten die bislang zurückhaltende Reaktion, die die Ukraine unter Führung von  Präsident Wolodymyr Selenskyj unter Beweis gestellt hat.“

Doch kann der Westen Putin vom ganz großen Krieg um die Ukraine abhalten und gibt der sich mit den beiden Regionen in der Ostukraine zufrieden, nach dieser Rede? Russland sei sich im Klaren darüber, dass der Schritt angesichts der vom Westen angedrohten Sanktionen ernste Folgen haben werde, sagte der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew. Aber das werde auch wieder abkühlen und der Westen sich beruhigen.

Der Kampf um eine Neuordnung, eine russische Neudefinition seiner Einflusssphären hat 32 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs begonnen.

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