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Aufrüsten zur Abschreckung Russlands: Was die Nato jetzt von Deutschland erwartet
Der Juni wird zum Monat der Wahrheit: Die Nato legt den neuen Truppen- und Geldbedarf im Angesicht der Bedrohung durch Russland fest. Auf Deutschland kommt dabei mehr als ein Kraftakt zu.
Stand:
Er ist erst seit gut einem halben Jahr Nato-Generalsekretär, beherrscht die harte Sprache, die es an der Spitze der weltweit größten Militärallianz mitunter braucht, aber schon ziemlich gut.
Der frühere niederländische Ministerpräsident Mark Rutte spricht auf dem Weg zum Gipfeltreffen Ende Juni in seiner alten Wirkungsstätte Den Haag von einer „stärkeren, faireren und tödlicheren Nato“.
Die Beschlüsse, die dort zur Abschreckung insbesondere Russlands getroffen werden sollen, werden es tatsächlich in sich haben. Sie sind durch die Amtszeit von US-Präsident Donald Trump noch einmal radikaler geworden, wurden aber auch schon weit davor von Rutte angestoßen.

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Ergebnis eines langen Nato-Planungsprozesses
Im Brüsseler Hauptquartier gibt es Abkürzungen für alles. Hinter den Buchstaben „NDPP“ verbirgt sich der „Nato Defence Planning Process“, der gut drei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zum Abschluss kommt.
Die Gipfel von Madrid, Vilnius und Washington erteilten den Militärs mehrere Aufträge: Sie sollten erst die Verteidigungspläne anhand der veränderten Bedrohungslage überarbeiten, dann errechnen, wie viele wie ausgestattete Soldaten es in der Umsetzung braucht, und daraus schließlich finanzielle und militärische Anforderungen für alle 32 Nato-Mitgliedstaaten ableiten.
Nun stehen die formalen Beschlüsse dazu an. Schon am 5. Juni trifft sich Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) mit seinen Amtskollegen, um die künftige Aufgabenverteilung abzusegnen.
Zu verhandeln gibt es nach monatelangen Vorbereitungsrunden nichts mehr. „Die Zuordnungen der Fähigkeitsziele an die Nato-Staaten sind erfolgt“, sagt ein deutscher Nato-Diplomat dem Tagesspiegel: „Die Verteidigungsminister werden diese bei ihrem Treffen Anfang Juni annehmen.“
Mehr Gesprächsbedarf gibt es noch zum künftigen Finanzziel. Die Staats- und Regierungschefs der Allianz sollen es auf ihrem Gipfel am 24. Juni verabschieden.
Die neue Fünf-Prozent-Formel
US-Präsident Trump beklagt mit sehr viel drastischeren Worten als seine Vorgänger, dass die Europäer sehr viel mehr für ihre eigene Sicherheit ausgeben müssten, wenn die Vereinigten Staaten Teil des Bündnisses bleiben sollen.
Als er wenige Tage nach Amtsantritt die Forderung in den Raum stellte, die Nato-Staaten sollten künftig fünf statt bisher zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung investieren, winkte selbst Pistorius ab, der selbst stets für mehr geworben hatte: „Fünf Prozent unserer Wirtschaftskraft entsprächen 42 Prozent des Bundeshaushalts“, rechnete er Anfang Februar dem Tagesspiegel vor. Diese etwa 230 Milliarden Euro hielt der Sozialdemokrat nicht für stemmbar.
Wir machen das nicht, weil US-Präsident Trump die fünf Prozent gefordert hat, sondern weil wir mit einer ernsten Bedrohungslage konfrontiert sind.
Ein deutscher Nato-Diplomat zum Zahlungsziel für das Bündnis
Seither ist einiges passiert. Nach der Grundgesetzänderung, die die Union des inzwischen zum Kanzler gewählten Friedrich Merz (CDU) überraschend mittrug, steht für die Aufrüstung mittlerweile theoretisch unbegrenzt viel Geld zur Verfügung – alle Verteidigungsausgaben oberhalb von einem Prozent der Wirtschaftsleistung sind von den Regeln der Schuldenbremse ausgenommen, weshalb Deutschland kein Problem mit dem entsprechenden Vorschlag von Nato-Chef Rutte hat.
Nicht zuletzt, um Trump an Bord zu halten, soll tatsächlich am Ende die Fünf stehen. Im Brüsseler Hauptquartier versucht man freilich zu betonen, dass es nicht nur darum geht, die neue amerikanische Administration milde zu stimmen. „Wir machen das nicht, weil US-Präsident Trump die fünf Prozent gefordert hat, sondern weil wir mit einer ernsten Bedrohungslage konfrontiert sind“, sagt der deutsche Diplomat. „Diese erfordert einen Aufwuchs der Fähigkeiten der Nato, die mit Ausgaben in dieser Größenordnung bereitgestellt werden können.”
Allerdings hat Rutte – damit auch Mitgliedstaaten mit geringeren finanziellen Möglichkeiten eine Chance haben – intern eine Mischkalkulation vorgeschlagen. Die Formel, der schon vor zwei Wochen im türkischen Antalya alle Außenminister der Allianz grundsätzlich zustimmten, lautet 3,5 + 1,5.
Damit wird für Deutschland angestrebt, die militärischen „Kernausgaben“ im Einzelplan 14 des Bundeshaushalts perspektivisch auf 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung zu erhöhen – nach aktuellem Stand rund 150 Milliarden Euro jährlich. Im Bundestag nannte Pistorius vergangene Woche das Zieljahr 2032 – bei aktuell 2,1 Prozent müssten die Verteidigungsausgaben also in sieben Jahresschritten durchschnittlich um 0,2 Prozentpunkte steigen.
Vorausgesetzt, es bleibt bei diesem Zeithorizont. „Im Augenblick laufen noch Gespräche darüber, bis wann das Finanzziel erreicht werden soll“, berichtet der deutsche Nato-Diplomat. Bis zum Haager Gipfel dürfte das seiner Einschätzung nach „der schwierigste Verhandlungspunkt werden“.
Länder wie Belgien, die schon das bisherige Zwei-Prozent-Ziel klar verfehlten, dringen auf eine spätere Jahreszahl. Andererseits operiert die Bundeswehr mit dem Jahr 2029 als dem Zeitpunkt, zu dem Russland in der Lage wäre, ein Nato-Land anzugreifen – ganz zu schweigen davon, dass manche Experten für zu optimistisch halten. Einige Nato-Staaten dringen daher auf mehr Tempo.
Unter die zusätzlichen 1,5 Prozent sollen andere militärisch relevante Ausgaben fallen – etwa Kosten des Zivilschutzes, der Geheimdienste, um Russlands Formen der hybriden Kriegführung zu enttarnen, oder für die Sanierung von Verkehrswegen, über die im Ernstfall Truppen gen Osten verlegt würden.
Bis zum Gipfel geht es auch hier noch um den Feinschliff. Einerseits sollen die Mitgliedstaaten bewusst ein bisschen Spielraum bekommen. Andererseits soll eine möglichst genaue Definition dieser relevanten Ausgaben im Gipfeldokument dafür sorgen, dass das Ziel nicht beispielsweise ohne zusätzliches Geld erreicht wird, indem einfach alle Kosten für die Krankenhausinfrastruktur angerechnet werden, auf die es im Kriegsfall ebenfalls ankäme.
Neue Minimalanforderung maximal schwer erreichbar
Auf den möglichen Ernstfall eines russischen Angriffs sind auch die höheren „Minimum Capability Requirements“ ausgerichtet, die Nato-Oberbefehlshaber Christopher Cavoli von den Mitgliedstaaten fordert. Aus einem im Oktober durchgesickerten Papier geht hervor, dass aus seiner Sicht Luftverteidigung und vor allem die Landstreitkräfte massiv verstärkt werden müssen: Für das ganze Bündnis verlangt der US-General 131 statt bisher 82 Brigaden mit Kampftruppen.

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Genaue Zahlen darüber, was das für Deutschland nun bedeuten wird, gibt es vor dem geplanten Ministerbeschluss nächste Woche noch nicht. Die Größenordnung aber lässt sich aus Cavolis Zahlen schon länger ableiten. Im Herbst rechnete der damalige Verteidigungsausschussvorsitzende Marcus Faber (FDP) vor, allein das Heer müsse statt bisher drei Divisionen mit rund 65.000 Soldatinnen und Soldaten eher fünf aufbieten mit 100.000 Männern und Frauen.
Statt gewachsen ist die gesamte Truppe aber in den vergangenen Jahren auf eine Personalstärke von etwas über 181.000 geschrumpft – die noch von der früheren Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ausgegebene Zielgröße liegt bisher bei 203.000. Nun wächst die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit noch.
Als neue mögliche Zielgröße nannte Pistorius kurz vor Weihnachten im Bundestag die Zahl 230.000. In Bundeswehr- und Sicherheitskreisen ist mittlerweile wahlweise von 240.000 oder gar von bis zu 260.000 die Rede, die die Bundeswehr Anfang der 2030er-Jahre Jahre aufbieten soll. „Die künftige Zielgröße der Bundeswehr zu erreichen, ist ein enormer Kraftakt“, sagt der deutsche Nato-Diplomat: „Dafür werden wir die notwendigen Voraussetzungen schaffen.”
Neue Wehrpflichtdebatte voraus!
Das ist leichter gesagt als getan. In jedem Fall dürfte die Wehrpflichtdebatte noch akuter geführt werden als ohnehin schon. In ihrem Koalitionsvertrag haben Union und Sozialdemokraten vereinbart, dass der geplante neue Wehrdienst „zunächst auf Freiwilligkeit basiert“. Das Wörtchen „zunächst“ ebnete dabei den Weg zum Kompromiss – einerseits käme es demnach nicht sofort zu dem von CDU und CSU geforderten Zwangsdienst, andererseits erklärte die SPD damit die grundsätzliche Bereitschaft, ihn bei zu geringen Freiwilligenzahlen eben doch einzuführen.
Könnte dieser Punkt mit den neuen Nato-Zahlen erreicht sein, ehe die neue Regierung ihr Vorhaben überhaupt in einen Gesetzentwurf gegossen hat? Nach Informationen des Tagesspiegels werden im Verteidigungsministerium dafür bereits Vorkehrungen getroffen und verschiedene Varianten dafür erarbeitet.
Die eine sähe neben dem verpflichtend auszufüllenden Fragebogen keine Verpflichtung zum Wehrdienst vor, der im ersten Jahr 5000 und im zweiten 10.000 Interessenten anlocken soll – erst danach stünden den Planungen zufolge genug Ausbilder und Kasernen für mehr zur Verfügung. In der zweiten Variante wäre eine Zwangsrekrutierung im Falle ungenügender Zahlen bereits enthalten.

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Klar ist freilich, dass selbst eine Wehrpflicht nicht alle Personalprobleme lösen kann. Zwar hoffen sie im Ministerium, dass sich einige der Wehrdienstleistenden im Anschluss als Berufssoldaten verpflichten. In der Hauptsache aber sollen sie die sogenannte „Aufwuchsfähigkeit“ der Bundeswehr sichern, indem sie ein Reservoir an Reservisten bilden, die im Ernstfall herangezogen werden.
Stark auf die Reserve setzt auch Generalinspekteur Carsten Breuer. Seiner Lesart nach muss die höhere Nato-Anforderung nicht unbedingt mit Berufssoldaten erreicht werden. Seine bisherige nationale Planung zur „Kriegstüchtigkeit“ 2029 geht von der Zahl 460.000 aus. Davon wären rund 200.000 aktive Soldatinnen und Soldaten, 60.000 bereits beorderte, also eingesetzte Reservisten, und weitere 100.000 von den rund 800.000 ehemaligen Soldaten. Die Lücke von weiteren 100.000 hofft Breuer über den Wehrdienst und die Weiterverpflichtung der etwa 20.000 jährlich ausscheidenden Bundeswehrangehörigen zu schließen.
Diese Rechnung hält Sara Nanni als verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen für illusorisch. Breuer müsste seine Gesamtkalkulation ihrer Meinung nach wohl eher auf mehr als 500.000 Männer und Frauen anpassen. Sie wirft den Verantwortlichen vor, zu wenig für einen attraktiveren Dienst getan zu haben und schlecht für das neue Nato-Ziel für die aktive Truppe gerüstet zu sein.
„Die genaue Zahl ist noch unbekannt – dass wir von einer Größenordnung zwischen 250.000 und 260.000 reden, ist aber schon seit etwa einem Jahr bekannt“, sagte sie dem Tagesspiegel. „Generalinspekteur und Verteidigungsminister hätten das früher wissen und auch anders danach handeln müssen.“
Wäre der nun noch offenkundigere Mehrbedarf an Menschen und Material früher und klarer kommuniziert worden, hätte das nach Nannis Ansicht sogar die Vorgängerregierung retten können, die letztlich an der Frage zusätzlicher Schulden für die Sicherheit scheiterte: „Vielleicht hätte sich mit diesen Zahlen sogar die FDP in der Ampel erweichen lassen, mehr zu tun.“
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