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Yasemin Karakaşoğlu wurde jetzt mit dem Bundesverdienstorden für ihr Engagement geehrt.

© Wolfgang Kumm/dpa

Bundesverdienstorden für Migrationsforscherin: „Die Tage des Nationalstaats sind gezählt“

Migration ist ihr Lebensthema. Jetzt ehrte der Bundespräsident die Forscherin Yasemin Karakaşoğlu für ihr Engagement. Für den Tagesspiegel zieht sie Bilanz.

Yasemin Karakaşoğlu ist eine deutsche Turkologin und Erziehungswissenschaftlerin. Ihr Spezialgebiet ist die Erforschung von Interkulturalität.

Frau Karakaşoğlu, Sie beobachten als Wissenschaftlerin die Einwanderungsgesellschaft schon sehr lange. Sie waren in den 1990er Jahren Gutachterin im berühmten ersten Kopftuchverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.
Nicht nur als Wissenschaftlerin und viel länger! Ich bin Tochter eines Vaters, der 1963 als Student aus der Türkei kam und in den 70ern einer der ersten Sozialbetreuer der Arbeiterwohlfahrt für Migrant:innen wurde. Ich bin sozusagen vor 56 Jahren schon ins Thema hineinsozialisiert worden.

Desto mehr Grund, Sie um eine Bilanz zu bitten. Gerade haben Sie die Führung des Rats für Migration abgegeben, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutschland, die zum Thema forschen.
Eine teils deprimierende Erfahrung: Es geschah so viel Wichtiges in diesen drei Jahren – die Katastrophen an den EU-Grenzen, denen Europa zuschaut, die Instrumentalisierung Geflüchteter durch die Türkei und schließlich Belarus. Aber das allgemeine Interesse daran war gering, auch in den Medien. Corona hat das seit letztem Jahr stark überdeckt. Die Pandemie ist eine Grunderschütterung der Weltgesellschaft, die vor allem hier bei uns alle Sicherheiten durcheinandergebracht hat, alles, was wir zu wissen glaubten.

Inzwischen sind wir auf dem Weg zu einer neuen Regierung. Mit Ihrer Erfahrung im Rücken: Wie beurteilen Sie die Migrationspolitik im Koalitionsvertrag der Ampel?
Ich sehe eine deutliche Veränderung. Die Ampel will anscheinend den Krisenmodus verlassen. Denken Sie daran, dass im letzten Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD noch stand “Wir wollen eine Wiederholung der Situation von 2015 vermeiden.” Eine unsägliche Formulierung, bei der ich mich frage: Was darf sich nicht wiederholen? Diese große menschliche Hilfsbereitschaft etwa, die sich damals zeigte? Solche Sätze zielen natürlich auf eine Klientel von rechts, da hat die GroKo auch bestimmte Haltungen legitimiert.

Das liest sich im neuen Vertrag deutlich anders, es wird zum Beispiel eine Orientierung der Migrationspolitik an den Menschenrechten genannt. Es gibt vorsichtige Hinweise darauf, dass Antidiskriminierung und Antirassismus wirklich angegangen werden, antijüdischer, antischwarzer, antimuslimischer Rassismus, Antiziganismus. Vielfalt ist ein prägendes Wort des Koalitionsvertrags – sicher hat das etwas Deklaratorisches, und oft wird Vielfalt vor allem als Wettbewerbsvorteil gepriesen, nicht als Wert an sich. 

Viel andere Rhetorik – wo sehen Sie die wichtigsten nachprüfbaren Vorhaben?
Das ist zum Beispiel die Erklärung, dass Seenotrettung nicht behindert werden darf, dass die Ankerzentren nicht weiter verfolgt werden, die Abschaffung von Arbeitsverboten, dann der Spurwechsel aus einem Schutzstatus in den Status eines Arbeitsmigranten. Einstellungsvoraussetzungen sollen flexibilisiert werden in Richtung praktischer Berufserfahrungen. Da hat die FDP offenbar gut mitgewirkt, die Rechtssicherheit für die Betriebe wollte, wenn sie Menschen ausbilden und einstellen.

Da ging es um den Wirtschaftsstsandort. Ein schöner Lernerfolg der Politik ist, dass die Integrationskurse künftig passgenau am Bedarf derer ausgerichtet werden, die sie besuchen. Gut auch, dass Kinder und Jugendliche von Anfang an Zugang zu Bildung haben sollen. Noch besser wäre es gewesen, an dieser Stelle “Schule” zu schreiben. Denn Bildung wird ja auch in den Heimen vermittelt. Die Illusion, man könne irreguläre Migration verhindern, steht auch in diesem Vertrag wieder. Nun ja.

Nun war ja auch die Gesetzgebung der Ära Merkel praktisch oft viel liberaler, als sie sich gab. Zum Beispiel sind sechs Monate Aufenthalt möglich für alle, die sich hier Arbeit suchen wollen. So steht es im Gesetz, praktisch kommen Arbeitsuchende höchst selten an Visa.
Dass solche Möglichkeiten auf kaltem Weg ausgehebelt werden, das kenne ich persönlich aus meinem Engagement beim DAAD, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, in dessen Vorstand ich seit etlichen Jahren bin. Wer über den DAAD nach Deutschland kommt, ist nicht nur sehr gut ausgebildet, sondern Deutschland auch meist sehr zugewandt. Aber die Botschaften, die Auslandsvertretungen Deutschlands - wie soll ich sagen? Sie schwingen da nicht mit.

Was meinen Sie?
Wir erleben im DAAD, dass Anträge sehr schleppend bearbeitet werden, dass ewig Rückfragen kommen, aus denen Misstrauen spricht, ob die Angaben auch wirklich stimmen. Da wird behauptet, der Antrag sei nicht vollständig, obwohl er das ist, es werden Sicherheiten angefordert, die längst vorliegen. Die Grundhaltung ist: Man muss auf Herz und Nieren prüfen, um sicherzustellen, dass niemand, aber auch wirklich niemand sich irgendwie einen Daueraufenthalt in Deutschland erschleicht. Wir hatten kürzlich einen kanadischen Kollegen, der mit einem Alexander-von-Humboldt-Stipendium an die Uni kam. Wir wollten ihn nach seinem letzten Semester noch für eine Summer School behalten, aber dafür wäre wieder eine aufenthaltsrechtliche Prüfung nötig gewesen. In den Behörden gibt es eine über lange Jahre eingeübte Praxis der Abwehr und Abschottung. Es scheint unglaublich schwierig, das aus den Köpfen zu bekommen.

Die Botschaften klagen oft, sie hätten zu wenig Personal.
Das ist so. Und ich kenne genug Abteilungsleiter:innen von Botschaften, die die Dinge gern anders und einladender angehen würden. Das liegt also nicht an ihnen. Ich denke aber auch, wenn eine Botschaft in der Visaabteilung, sagen wir, in Ankara und Delhi, zu wenig Personal hat, dann ist das das Ergebnis von Steuerungsentscheidungen. Womöglich in Berlin? Wenn die Ampel es also mit Veränderungen ernst meint, muss sie genau da nachlegen. Wir werden das in den nächsten Jahren beobachten.

Eine alte Forderung von Migrationsfachleuten ist allerdings nach Lage der Dinge nicht erfüllt. Migrationspolitik und die Gesellschaftspolitik, die damit einhergeht, wird wohl beim Innenministerium bleiben, statt sie in ein Gesellschaftsministerium zu integrieren, Soziales zum Beispiel.
Nicht nur das. Es gibt auch keine Migrationsabteilung in irgendeinem Ministerium. Das ist sehr enttäuschend. Klar kann man das mit sehr viel gutem Willen auch so interpretieren, dass das als Querschnittaufgabe längst begriffen ist und keine eigenen Strukturen braucht. Nur: So steht es eben nicht im Vertrag. Die Migrationsgesellschaft ist nach wie vor keine zentrale Kategorie, sondern ein Unterpunkt in den politischen Institutionen. Dabei ist unsere ganze Gesellschaft in jeder Faser davon geprägt. Niemanden von uns lässt das unbeeinflusst. Menschen haben transnationale Bezüge, sind mehrsprachig. Das strukturiert unser Zusammenleben ganz stark.

Wenn Sie eine Zwischenbilanz zu ziehen hätten – wo steht die Einwanderungsgesellschaft heute?
Als alte Häsin und, wie gesagt, Tochter einer türkisch-deutschen Familie, die viel sehr direkt erlebt hat, kann ich nicht in den Chor derer einstimmen, die sagen, es sei alles schlimmer geworden. Das stimmt einfach nicht. Es gibt aber eben auch keine linearen Entwicklungen, die Geschichte verläuft auch gern in Schleifen. Ich nenne ein Beispiel aus meinem akademischen Feld, Bildung. Vor Jahren haben wir über die Pisa-Studien diskutiert. Da hat man wie selbstverständlich nachgesehen, welche Eigenschaften wohl die haben, die nicht vorankommen in der Schule. Heute schauen wir darauf, wo das Schulsystem verhindert, dass sie es schaffen. Andererseits gibt es die Wutbürger, Pegida und den unglaublichen Verkaufserfolg von Sarrazin.

Wie lesen Sie das?
Als Zeichen, dass wir am Eingemachten der Gesellschaft angekommen sind. Frühere Selbstverständlichkeiten sind erschüttert wie nie zuvor. Die Kinder der Leute, die die Toiletten geputzt und die Kohle aus der Erde geholt haben, sind – wenn auch noch nicht so viele, wie es gerecht wäre – in Positionen gekommen in Unternehmen, Politik, Wissenschaft. Und die sind dort nicht still und dankbar, dass sie endlich auch einen Platz am Tisch ergattert haben. Sie sprechen offen über ungerecht verteilte oder verweigerte Chancen. Angela Merkel, die vor zehn Jahren Multikulti für gescheitert erklärte, sagt jetzt, dass Deutschland ein Rassismusproblem habe. Da tut sich etwas. Und dagegen bäumen sich die auf, die Angst vor Machtverlust haben.

Was meinen Sie?
In erster Linie den Verlust des Herr-im-Haus-Gefühls, die Illusion des Nationalstaats: Das hier ist mein Land, dieses Gebiet gehört mir, hier geht es nach meinen Regeln zu. Sicher oft auch verbunden mit banaler Bequemlichkeit: Warum habe ich 40 Jahre lang N-Kuss und Z-Schnitzel gesagt und soll das nicht mehr dürfen? Und dann haben wir natürlich auch Diskurse, die über Jahrzehnte gepflegt wurden: Keine Überfremdung, nicht zu viele ausländische Kinder in einer Klasse, für Arbeitsplätze kommen erst deutsche Bewerbungen infrage, dann europäische, dann “der Ausländer”.

Solche Kategorien und Hierachien erscheinen irgendwann einmal wie naturwüchsig. Was für eine seltsame Vorstellung, dass eine Gesellschaft sozusagen einen Ph-Wert hat, der nicht aus dem Lot kommen darf, einen Sättigungswert, nach dem nichts mehr geht.

Erklären Sie mal, was Sie mit dem Eingemachten meinen?
Wir sind an dem Punkt, wo allen aufgeht: Mit diesen Vorstellungen kommen wir nicht weiter. Die Migrationsgesellschaft ist eine Tatsache, sie ist unumkehrbar. Das ist für viele sehr anstrengend. Und bei einigen mündet diese Anstrengung und Angst sogar in Gewalt. Rassismus ist eben kein Kavaliersdelikt, er kann töten. 

Den Nationalstaat halten Sie für überlebt?
Der Nationalstaat ist ja noch sehr jung, es gibt die Idee seit etwa 200 Jahren. Das Deutsche Reich, die verspätete Nation, wurde vor 150 Jahren gegründet. Und weil es so wenig Wurzeln im Bewusstsein hatte, musste man den Leuten das Konzept desto massiver einbläuen. Benedict Anderson prägte vor fast 40 Jahren das Wort “imagined communities”, eingebildete, also gemachte Gemeinschaften. Aber das Lernen dieses Konzepts war recht erfolgreich.

Die Schulen spielten und spielen dabei eine wichtige Rolle. Erst seit 20 Jahren, mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, hat es Risse bekommen. Grenzen werden immer poröser. Ich habe inzwischen Studierende, die mir nicht mehr glauben wollen, dass ich, in Niedersachsen geboren und aufgewachsen, lange als Ausländerin hier lebte. Da ändert sich etwas, sehr langsam zwar.  Aber ich bin sicher, dass die Tage des  Nationalstaats, wie wir ihn kannten, gezählt sind.

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