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Demonstration gegen die EU-Urheberrechtsreform

© snapshot photography / M Czapski

Freie Rede im Internet: Der Verbannungs-Aktionismus von Facebook und Twitter ist willkürlich

Wegen „Fake News“, Manipulationen und Live-Terror wird im Netz gesperrt wie nie zuvor. So wird aus der freien Rede schnell eine gelenkte Rede. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Es dröhnt immer lauter: „Hass und Hetze gehören verboten!“ Und: „Wer Wahlen manipuliert oder Verschwörungstheorien verbreitet, muss aus den sozialen Netzwerken verbannt werden!“ Das islamfeindliche Massaker von Christchurch, wo vor zwei Monaten ein Rassist die Gläubigen in zwei Moscheen angegriffen und 51 Menschen ermordet hatte, gilt als vorerst letzte Warnung. Der Attentäter hatte sein Verbrechen mit einer Helmkamera über Facebook live ins Internet übertragen. Seitdem wird gelöscht und gesperrt wie nie zuvor. Ist die Meinungsfreiheit bedroht?

Am Montag besuchte UN-Generalsekretär Antonio Guterres die muslimische Gemeinde in Christchurch. Hassbotschaften im Internet würden sich in den sozialen Medien „wie ein Lauffeuer“ verbreiten, sagte er. „Wir müssen dieses Feuer löschen.“ Guterres kündigte eine UN-Initiative gegen die Verbreitung von Hass im Internet an. Der Sonderbeauftragte für die Prävention von Völkermord werde einen entsprechenden Aktionsplan vorlegen.

Zwei Tage später luden Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern diverse Manager von Google, Facebook und Twitter zum Gipfel nach Paris. Sie unterzeichneten den „Christchurch Call“, eine Erklärung, die die Verbreitung von Terrormaterial unterbinden soll. Ebenfalls am Mittwoch musste ein Vertreter von Twitter im Digitalausschuss des Bundestages erklären, warum selbst unverfängliche Nutzer-Konten gesperrt wurden, darunter die von IT-Fachanwalt Thomas Stadler, Berlins SPD-Staatssekretärin Sawsan Chebli, dem Sozialdemokraten Sven Kohlmeier und von der Zeitung „Jüdische Allgemeine“.

Donald Trump kritisierte Facebook

Seit April gilt bei Twitter eine neue Richtlinie „zur Integrität von Wahlen“. Sie verbietet die Nutzung des Kurznachrichtendienstes, um „Wahlen zu manipulieren oder zu beeinträchtigen“. Unter das Verbot fallen auch Inhalte, „die sich negativ auf die Wahlbeteiligung auswirken oder falsche Angaben zum Termin, zum Ort oder zum Ablauf einer Wahl machen“.

Vor gut einer Woche hatte Facebook die Konten einiger prominenter Rechtsextremisten gesperrt. Betroffen waren unter anderem der amerikanische Radio-Moderator Alex Jones, der britische ehemalige Redakteur von „Breitbart News“, Milo Yiannopoulos, der Hollywood-Schauspieler James Woods, aber auch der Führer der religiös-politischen Bewegung „Nation of Islam“, Louis Farrakhan. Zur Begründung teilte das Unternehmen lediglich mit, man habe immer schon Individuen und Organisationen verbannt, die Gewalt und Hass propagierten.

US-Präsident Donald Trump kritisierte Facebook. „Es wird immer schlimmer für Konservative in den sozialen Netzwerken“, twitterte er. Was Jones, Yiannopoulos, Woods oder Farrakhan von sich geben, hat mit Konservativismus freilich wenig zu tun. Es ist menschenverachtend, rassistisch, verschwörungstheoretisch.

Ein Akt der Imagepflege des Unternehmens

Dennoch mutet der eskalierende Verbannungsaktionismus von Facebook und Twitter willkürlich an. Die Kriterien sind ebenso intransparent wie das Verfahren. Nicht Gerichte entscheiden darüber, ob eine Aussage vom Menschenrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt ist, sondern Algorithmen und Konzernmitarbeiter. Deren oberstes Interesse dürfte es oftmals sein, Geldbußen zu vermeiden oder auch nur den herrschenden Ansichten zu entsprechen.

Damit wird die Verbannung aus der digitalen Infrastruktur zu einem Akt der Imagepflege des Unternehmens. Wenn aber offener, auch schmerzhafter Streit autoritär unterbunden wird, wenn Angestellte über Wahres und Falsches, Manipulation und historische Fakten befinden, wird aus der freien Rede schnell eine gelenkte Rede.

Denn wer hat Recht? Gab es eine polnische Mittäterschaft am Holocaust? Das zu behaupten, ist laut polnischem Gesetz streng verboten. Israelische Wissenschaftler kritisieren das Gesetz. War der Holodomor, das Verhungernlassen von Ukrainern in der Stalin-Zeit, ein Völkermord? Darüber befehden sich Historiker bis heute. In Frankreich steht die Leugnung des Genozids an den Armeniern unter Strafe, in der Türkei gilt das Gegenteil. In Polen, Tschechien und Ungarn dürfen neben dem Holocaust auch die kommunistischen Verbrechen nicht bestritten werden. Eine solche Parallelisierung von Stalinismus und Nationalsozialismus hatte in Deutschland einst zum Historikerstreit geführt. Und warum verbietet Twitter Äußerungen, die sich negativ auf eine Wahlbeteiligung auswirken? Darf eine Opposition, die sich bei Wahlen nicht vertreten fühlt, keinen Boykottaufruf mehr verbreiten?

Mindestens 17 Länder – darunter Malaysia, Ägypten und Kenia – haben sich bei ihrer Verschärfung von Internet-Gesetzen auf die Verbreitung von „fake news“ berufen. Der Begriff ist zum Schlagwort geworden, mit dem sich Unliebsames diffamieren und ausschalten lässt. Die Überzeugung, dass das Aushalten auch von Unsinn und Differenz ein Wert ist, der sich unmittelbar an den der Freiheit knüpft, schwindet. Es wird Zeit, das Internet vor seinen Verschlimmbesserern zu schützen.

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