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Corona als günstige Gelegenheit: Berlin zählt weniger Radfahrer, baut aber mehr Radstreifen.

© Jörg Carstensen/dpa

Gastwirte, Linke, Rad-Lobby, Migration: So frech agieren die Trittbrettfahrer der Pandemie

Viele Lobbys begründen ihre alten Forderungen jetzt neu mit Corona. Eine Hoffnung aber bleibt aus dieser Ära: Hört auf die Wissenschaft! Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Corona zwingt zum Umdenken und rückt die Prioritäten zurecht: in Wirtschaft und Gesundheitswesen, im Straßenverkehr, in der Umwelt- und der Europapolitik. Das ist jedenfalls die Hoffnung vieler.

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Dann schaut man auf aktuelle Forderungen jenseits praktischer Notwendigkeiten zur Pandemiebekämpfung und kommt ins Grübeln. Da ist viel „alter Wein in neuen Schläuchen“: Forderungen, die die jeweiligen Interessengruppen schon immer hatten und auf die sie nun das Etikett Corona kleben. Wobei der behauptete Zusammenhang oft nicht stimmt.

Da sind die Hoteliers und Gastwirte, die den Mehrwertsteuersatz für ihre Branche durchweg auf sieben Prozent drücken wollen, wegen Corona. Die Teilreduzierung 2010 – nur für den Preis der Übernachtung, nicht für Essen und Getränke – ist der Politik, voran der FDP, nicht gut bekommen.

Private Krankenversicherung abschaffen

Da ist Die Linke, die die Private Krankenversicherung (PKV) schon lange abschaffen will, ungeachtet der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Neue Begründung: Viele Privatversicherte könnten wegen Corona die Prämien nicht mehr aufbringen, weil ihnen das Einkommen wegbreche. Gäbe es keine PKV mehr, könne das nicht passieren.

Tische stapeln sich vor einer geschlossenen Eisdiele in Kassel.
Tische stapeln sich vor einer geschlossenen Eisdiele in Kassel.

© Uwe Zucchi / dpa

Wirklich? Nach ähnlicher Logik könnte man auch alle Betriebe verstaatlichen, denn wenn alle in Volkseigentum sind, kann keiner mehr Pleite gehen, nicht wahr? Wie das geendet hat, sollten die SED-Erben wissen.

Italien möchte Eurobonds, die Entlastung von der nationalen Verantwortung für die Schulden bringen, unter dem Namen Coronabonds durchsetzen.

Neue Radspuren trotz sinkender Nutzerzahlen

Die Fahrrad-Lobby nutzt Corona, um rasch Straßenflächen in Berlin zu Radspuren umzuwidmen. Ein neuer Blick auf die Verteilung des knappen Gutes Straße unter verschiedenen Verkehrsteilnehmern ist gewiss gerechtfertigt.

Nur warum so überstürzt und mit der Behauptung, in der Pandemie seien viele Menschen aufs Fahrrad umgestiegen? Nach der Verkehrszählung fahren derzeit weniger Berliner Fahrrad als vor Corona, trotz des sonnig-trockenen Wetters. Der Rückgang ist zwar geringer als bei den Autos, aber ein Rückgang bleibt es, und parallel ist die Zahl der Lkw und Lieferfahrzeuge gestiegen.

Wer schon früher dafür war, Migranten aus den griechischen Lagern nach Deutschland zu holen, fordert das jetzt erst recht. Es müsse ganz schnell gehen, wegen Corona - denn was wäre, wenn dort die Pandemie ausbricht? Die Corona geschuldeten Einschränkungen beim Reisen in Europa wollen die Aktivisten jedoch auf „Flüchtende“ nicht anwenden.

Migranten von den Inseln in Corona-Länder holen

Und sehen sie nicht, dass die Infiziertenzahlen und damit die Ansteckungsgefahr in den Ländern der „Koalition der Willigen“ höher sind als auf den griechischen Inseln? Das gilt für Frankreich, Belgien und Schweden, aber auch für Deutschland. Die anderen „Willigen“ wollen in dieser Lage nicht aufnehmen, Ausnahme Luxemburg, das zwölf Minderjährige einreisen ließ. Und schon vor Corona hat deutsches Vorpreschen in dieser Frage das Risiko der Spaltung Europas erhöht.

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Nun gut, wer hat ernsthaft erwartet, dass Bürger und Lobbygruppen ihre Grundüberzeugungen ablegen, nur weil gerade Pandemie ist? Eine Hoffnung bleibt im Vergleich zur Zeit vor Corona: Dass der Rat der Wissenschaftler zählt. Aber nicht nur der Rat derer, die die vorgefasste Meinung bestätigen.

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Erfrischend: Wenn Wissenschaftler verschiedener Meinung sind

In der Pandemie konnten Gesellschaft und Politik lernen, wie irreführend der Schlachtruf von „Fridays for Future“ ist: „Follow the science!“ Wissenschaftler sind sich nie völlig einig. Gut so, denn Zweifel, Widerspruch und Konkurrenz befördern die Erkenntnis. Die Virologen Christian Drosten und Alexander Kekulé gaben unterschiedlichen Rat, das Robert-Koch-Institut wieder anderen. Die Leopoldina und die Helmholtz-Gemeinschaft widersprachen sich.

Drosten betonte, wie begrenzt das Wissen der Wissenschaftler ist. Dass sie irren können. Dass sie sich nur in ihrem kleinen Bereich auskennen. Der Rat der Virologen muss zudem interdisziplinär mit dem Rat der Ökonomen und anderer Experten verbunden werden, wenn man alle berechtigten Interessen der Gesellschaft in einer Strategie bündeln will.

Wenn Deutschland diese Neugier und Vielfalt auf die Klimadebatte übertragen würde, wenn die Praxis, Andersdenkende als „Klimaleugner“ zu verleumden, enden würde, wenn ein öffentlicher Argumentationsaustausch zwischen den „Klimapäpsten“ in Potsdam, die in deutschen Medien fast ein Monopol haben, und ihren weniger prominenten Kollegen wie Hans von Storch, die den Klimawandel nicht bestreiten, aber schon seit Jahren andere Schlüsse über Treibkräfte, ihre jeweilige Bedeutung und Gegenstrategien ziehen, Alltag würde, dann wäre viel gewonnen.

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