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Abgang Arm in Arm. Die Grünen-Chefs Omid Nouripour und Ricarda Lang müssen eine schwere Niederlage aufarbeiten.

© dpa/Christoph Soeder

Grüne nach Absturz bei der Europawahl: „Die Kluft zwischen Parteifunktionären und der Bevölkerung scheint erheblich“

Unklare Botschaften, die Jugend verschreckt, den eigenen Vizekanzler an die Leine genommen: Die beiden Realo-Grünen Rezzo Schlauch und Daniel Mack rechnen mit dem Kurs ihrer Parteispitze ab.

Ein Gastbeitrag von
  • Daniel Mack
  • Rezzo Schlauch

Stand:

Bei der gestrigen Wahl wurden die Grünen von einem Tsunami erfasst, der alle bereits im Vorfeld reduzierten Erwartungen und Wahlziele pulverisiert hat. Mit 11,9 Prozent, einem Verlust von 8,5 Prozentpunkten und einem frustrierenden vierten Platz liegt ein Ergebnis vor, das die Partei an den Rand des einstelligen Bereichs bringt. Übliche Parteisprech-Erklärungen und die nach Niederlagen gewohnten Aufräumarbeiten der Gremien reichen hier nicht mehr aus.

Das wird umso deutlicher, wenn Erkenntnisse der Wahlforschung einbezogen werden, wie zum Beispiel die Tatsache, dass die pragmatische Mitte, die man als zu früh ausgerufene Volkspartei ansprechen wollte, auf die Frage, wen sie auf keinen Fall wählen würden, zu 56 Prozent die Grünen nannte. Mit dieser massiven Ablehnung rangieren die Grünen sogar noch vor der AfD (53 Prozent).

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Bei diesem desaströsen Gesamtbild müssen Konsequenzen im Kurs und im Auftritt gezogen werden, da jenseits der Defizite in der Regierungszusammenarbeit der Ampel und der Stimmungslage entscheidende Fehler auch hausgemacht sind.

Es ist widersprüchlich und nicht vermittelbar, wenn die Berliner Regierungsfraktion nach endlosen innerparteilichen Diskussionen, die öffentlich ausgetragen werden, dem europäischen Asyl- und Migrationspaket grünes Licht gibt, während die Brüsseler Grüne Fraktion diesem jedoch die Zustimmung verweigert.

Dazu passt, dass die Grünen, abgesehen von einzelnen Stimmen, insgesamt dem seit Langem schwärenden Problem des Islamismus merkwürdig indifferent begegnen, obwohl dieser diametral allen grünen Wertvorstellungen entgegensteht. Wie sollen Gefährder konkret behandelt werden? Wie kommt man zu einer effizienteren Abschiebepraxis? Wie können die Sicherheitsbehörden zeitgemäß ausgestattet werden?

Anstatt darüber konstruktiv zu diskutieren und sich auf praktikable Ergebnisse zu konzentrieren, nehmen die Grünen reflexhaft die entsprechende Antihaltung ein, um dann aufgrund des öffentlichen Drucks und dem Impuls, die Koalition nicht zu gefährden, einzulenken. Dieses Einknicken und die daraus resultierende Niederlage sind durch diese Art des Diskussionsprozesses vorprogrammiert. Das Bild des begossenen Pudels ist selbst gezeichnet.

Gemessen an der Reichweite wurde nicht nur viel Geld verbrannt, hat man Ressourcen verschleudert, sondern ist komplett an der Zielgruppe vorbeigerauscht.

Die Realo-Grünen Rezzo Schlauch und Daniel Mack kritisieren den digitalen Wahlkampf der Partei.

Vom Pudel zu Cat-Content: Mit viel Bling Bling und überschaubarem Inhalt setzte man auf eine große Offensive im digitalen Raum. Gemessen an der Reichweite wurde nicht nur viel Geld verbrannt, hat man Ressourcen verschleudert, sondern ist komplett an der Zielgruppe vorbeigerauscht. In den Worten der Jugend: Cringe.

Es ist beschämend, wenn die Partei, die für sich beansprucht, die Themen der Zukunft zu bearbeiten und die kommenden Generationen im Blick zu haben, bei den Erstwählern so schlecht abschneidet. Von 34 Prozent 2019 sind die Grünen auf gestern 11 Prozent bei den Jüngsten abgerutscht. Das ist besonders hart, da so viele junge Menschen wie nie zuvor die Grünen in Landtagen und im Bundestag vertreten. Offenbar ist ein Großteil des Personals nicht einmal in der Lage, die eigene Generation anzusprechen.

31
Prozent der Erstwähler votierten bei der Landtagswahl 2021 in Baden-Württemberg für die Grünen.

Wann wird die falsche Annahme aufgegeben, dass junge Menschen nur von jungen Politikern begeistert werden können? Es ist an Ironie nicht zu überbieten, dass sich die Spitzenfunktionärinnen der Kaderschmiede Grüne Jugend mit der Forderung nach einem „demokratischen Sozialismus“ offenbar Inspiration bei ihren politischen Großeltern holten, die damit Ende der 1980er Jahre krachend gescheitert sind. Die Kluft zwischen Mandatsträgern, Parteifunktionären und der Bevölkerung scheint erheblich zu sein. Der richtige Zeitpunkt für ein Umdenken in der fehlgeleiteten Personalpolitik ist jetzt. Denn das Potenzial ist nach wie vor hoch:

32,6 Prozent für Kretschmann-Grün 2021 in Baden-Württemberg. Bei jener Wahl votierten 31 Prozent der Erstwähler für einen Politiker, der eher für Ausführlichkeit und Hannah-Arendt-Philosophien bekannt ist als für Reels, Storys und schnelle Posts.

39,9 Prozent bei der vergangenen Bundestagswahl für Cem Özdemir im Automobil-Epizentrum Stuttgart 1, über 11 Prozent vor dem Parteiergebnis im Wahlkreis.

28,1 Prozent für Robert Habeck in Flensburg-Schleswig. Als Grüner im ländlichen Raum direkt gewählt im Bundestag? Königsdisziplin!

Stellt euch endlich konsequent hinter die Politik des eigenen Vizekanzlers.

Die Realo-Grünen Rezzo Schlauch und Daniel Mack fordern mehr Macht für Robert Habeck.

Auf diesen Erfolgen kann aufgebaut werden, wenn Personal, Programm und Performance stimmen. Die Lösung für alle drei Punkte kann nur Robert Habeck sein. Jedenfalls dann, wenn die Grünen im anstehenden Bundestagswahlkampf klarstellen wollen, wie die Bundesrepublik wieder zu einem Wirtschaftswachstum von drei Prozent zurückkehren kann, um Wohlstand und Weltmarktanteile zu sichern.

Man kann der Partei nur raten: Macht den Weg frei für innovative Politikansätze, die es ermöglichen, dass neue Geschäftsmodelle und Lösungen hierzulande entwickelt und angewandt werden können. Befreit euch von dem Ansatz „Malen nach Zahlen“, setzt nicht haarklein auf Sektorziele und starre Jahreszahlen. Konzentriert euch auf verlässliche Leitplanken für Wirtschaft und Gesellschaft, lasst genug Raum für unterschiedliche Wege zur technologischen Lösung und räumt lästige Bürokratie aus dem Weg. Stellt euch endlich konsequent hinter die Politik des eigenen Vizekanzlers, der genau das auf den Weg bringt, anstatt seine Vorschläge für Entlastungen und Anreize zu ignorieren und seine Kompromisse offen infrage zu stellen.

Robert Habeck wäre wohl gerne Kanzlerkandidat der Grünen – darf er auch?

© Reuters/Liesa Johannssen

Warum wurde seine Einigung mit dem grün-mitregierten Nordrhein-Westfalen, den Kohleausstieg um acht Jahre auf das Jahr 2030 vorzuziehen, auf einem Bundesparteitag so hart attackiert, dass dieser fast die Gefolgschaft verweigerte? Der Gipfel ist jedoch, dass mit Lisa Paus ausgerechnet eine grüne Kabinettskollegin das Wachstumschancengesetz wochenlang blockierte, ohne dass ihr Fraktion oder Partei in die Parade fuhren. Es ist daher logisch, dass Habeck einerseits als positiver Solist wahrgenommen wird, während andererseits den Grünen zu 63 Prozent attestiert wird, sie „kümmern sich zu wenig um Wirtschaft und Arbeitsplätze“.

Wie erfolgreich die Grünen mit Habecks pragmatischer Politik sein können, zeigt die Diversifizierung der Gaslieferungen nach dem abrupten Ende von Nordstream. Entgegen den damaligen Behauptungen von CDU- und SPD-Granden war Deutschland in höchstem Maße von russischer Energie abhängig. Dank Habecks klugem Mix aus schnellem Ausbau der Erneuerbaren und LNG-Terminals in Rekordtempo kam es nicht zu dem von Wirtschaftsforschungsinstituten prognostizierten heftigen Einbruch der Wirtschaftsleistung. Die Grünen lagen damals, im August 2023, bei 23 Prozent, die Zustimmung für Robert Habeck lag bei 50 Prozent.

Wenn es heute um die Erneuerung der europäischen Sicherheitsarchitektur und die Verteidigung der Zukunft des vereinten Kontinents in der Ukraine geht, sind es die Grünen, die in der deutschen Politiklandschaft verantwortungsbewusst und international verlässlich vorangehen, die Debatte prägen und die Koalition in die richtige Richtung lenken. Aufbauend auf Robert Habecks Forderungen vom Sommer 2021, die Ukraine militärisch besser auszustatten.

Kretschmann zeigt seit 2011, dass Habecks dialogorientierte und realitätsnahe Politik der richtige Weg ist. Seine Zustimmung ist durch reale Politik gewachsen. Das wird bei Habeck nicht anders sein, wenn ihm die Grünen folgen.

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