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Israels Präsident Reuven Rivlin

© epd/Christian Ditsch

Update

Israels Staatschef bei Holocaust-Gedenken: Rivlin fordert hartnäckigen Kampf gegen Antisemitismus

Die Präsidenten Deutschlands und Israels wenden sich in Berlin gegen „die bösen Geister der Vergangenheit“. Rivlin sagt: „Deutschland darf hier nicht versagen.“

Israels Staatspräsident Reuven Rivlin hat 75 Jahre nach dem Holocaust Deutschland aufgefordert, im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Hass nicht nachzulassen. Dieser Kampf müsse hartnäckig Generation um Generation weitergeführt werden, sagte er am Mittwoch in der Gedenkstunde des Bundestags für die Millionen Opfer des Nationalsozialismus. „Wir dürfen nicht aufgeben. Wir dürfen nicht nachlassen. Deutschland darf hier nicht versagen.“

Israels Staatschef Rivlin zollt Deutschland auch Respekt

Wenn Juden dort, wo der Holocaust an ihnen aufgekommen sei, heute nicht frei leben könnten, „werden Juden nirgendwo angstfrei in Europa und an anderen Orten auf der Welt leben können“, warnte Rivlin. Er betonte zugleich, er sei „voll Hochschätzung“ für die Rolle, die Deutschland auf diesem Gebiet international spiele.

Erstmals nahmen an der jährlichen Gedenkstunde des Bundestags beide Staatsoberhäupter Deutschlands und Israels teil und hielten Reden. Der Bundestag erinnert jedes Jahr Ende Januar an die Opfer des Nationalsozialismus. Anlass ist die Befreiung der letzten Überlebenden im deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz durch die sowjetische Rote Armee. Sie jährte sich in diesem Jahr zum 75. Mal. Auschwitz gilt weltweit als Symbol für den Holocaust, in dem die Nationalsozialisten rund sechs Millionen Juden ermordeten.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnte vor der Rückkehr autoritären Denkens in Deutschland und rief zum entschiedenen Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus auf. „Erheben wir uns gegen den alten Ungeist in der neuen Zeit“, sagte er. „Wir dachten, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen. Aber nein: Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand“, warnte Steinmeier.

Sie präsentierten ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Vision, als die bessere Antwort auf die offenen Fragen unserer Zeit. „Ich fürchte, darauf waren wir nicht vorbereitet - aber genau daran prüft uns unsere Zeit. Und diese Prüfung müssen wir bestehen. Das sind wir der Verantwortung vor der Geschichte, den Opfern und auch den Überlebenden schuldig!“

Steinmeier: „Sorge, dass wir Vergangenheit besser verstehen als die Gegenwart“

Steinmeier ging in einer längeren Passage mit klaren Worten auf die deutsche Gegenwart ein. Auch in Richtung der AfD gewandt sagte er: „Ich wünschte, ich könnte, erst recht vor unserem Gast aus Israel, heute mit Überzeugung sagen: Wir Deutsche haben verstanden. Doch wie kann ich das sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten, wenn das Gift des Nationalismus wieder in Debatten einsickert – auch bei uns?!“

„Wie kann ich das sagen, wenn das Tragen der Kippa zum persönlichen Risiko wird oder Juden die Menora beiseite räumen, wenn der Heizungsableser kommt?! Wie kann ich das sagen, wenn ein Rechtsterrorist in Halle an Jom Kippur zwei Menschen ermordet und allein die schwere Holztür der Synagoge ein Massaker an jüdischen Männern, Frauen und Kindern verhindert?!“, sagte Steinmeier weiter.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

© Reuters/Michele Tantussi

Der Bundespräsident thematisierte auch die zunehmenden Angriffe auf Mandatsträger: „Wie kann ich das sagen, wenn diejenigen, die Verantwortung für die Demokratie übernehmen – in Rathäusern, Parlamenten oder Zeitungsredaktionen –, angegriffen werden; wenn sie sich nicht mehr trauen, Ehrenämter in ihren Gemeinden zu übernehmen?! Und wie kann ich das sagen, wenn ein Abgeordneter dieses Hauses wegen seiner Hautfarbe mit dem Tode bedroht wird?!“

Seine Sorge sei nicht, „dass wir Deutsche die Vergangenheit leugnen“, sagte der Bundespräsident. „Meine Sorge ist, dass wir die Vergangenheit inzwischen besser verstehen als die Gegenwart.“

Seit 1996 wird mit dem Gedenken an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945 erinnert. An der Gedenkfeier im Parlament nahm auch der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin teil. Steinmeier und Rivlin hatten am Montag gemeinsam an der Gedenkzeremonie in Auschwitz teilgenommen. Steinmeier dankte Rivlin für die „Gnade“ der Versöhnung von Seiten Israels und bekräftigte: „Wir stehen an der Seite Israels“.

Schäuble fordert Courage gegen Antisemitismus

Zuvor hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble vor einer Verharmlosung der Nazi-Verbrechen gewarnt. „Immer wieder gab es Versuche, und es gibt sie immer noch, die Verbrechen kleinzureden. Das wird nicht gelingen“, sagte der CDU-Politiker in der Eröffnungsrede zur Gedenkstunde. Es gehöre zum gesellschaftlichen Grundkonsens, diese historische Verantwortung anzunehmen. „Sie ist konstitutiv für das Selbstverständnis unseres Landes. Wer an diesem Fundament rüttelt, wird scheitern.“

Schäuble sagte, die Geschichte gebe keine Handlungsanleitungen. Wer sich mit ihr ernsthaft befasse, schärfe aber seine Sensibilität für Entwicklungen in der Gegenwart und könne sie besser deuten. Diese Sensibilität sei gerade heute nötig. „75 Jahre nach Auschwitz gibt es in Deutschland noch immer Antisemitismus und Rassismus - in vielen Facetten.“ Schäuble verlangte einen starken und konsequent handelnden Staat und eine couragierte Zivilgesellschaft, um dem Antisemitismus entgegenzutreten.

Allein in Auschwitz ermordete die SS 1,1 Millionen Menschen

Allein im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz im von der Wehrmacht besetzten Polen ermordete die SS mindestens 1,1 Millionen Menschen, zumeist Juden. In ganz Europa fielen dem Holocaust rund 6 Millionen Juden zum Opfer. Im von Nazi-Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg starben mindestens 55 Millionen Menschen.

Bei der Gedenkstunde des Bundestags vor einem Jahr hatte der israelische Historiker und Holocaust-Überlebende Saul Friedländer die Rede gehalten. Er warnte damals: „Antisemitismus ist nur eine der Geißeln, von denen jetzt eine Nation nach der anderen schleichend befallen wird. Der Fremdenhass, die Verlockung autoritärer Herrschaftspraktiken und insbesondere ein sich immer weiter verschärfender Nationalismus sind überall auf der Welt in besorgniserregender Weise auf dem Vormarsch.“

Steinmeier und Rivlin besuchten schon gemeinsam Yad Vashem und Auschwitz

Steinmeier und Rivlin hatten in der vergangenen Woche bereits gemeinsam am Holocaust Forum in Yad Vashem und am Montag am Gedenken in Auschwitz teilgenommen. In Yad Vashem durfte Steinmeier als erstes deutsches Staatsoberhaupt reden. Dort und in Auschwitz bekannte er sich zur deutschen Schuld am Holocaust, lehnte jeden Schlussstrich unter das Erinnern daran ab und betonte die Verpflichtung, dem neuen Antisemitismus auch in Deutschland entschieden entgegenzutreten.

Zeit, Worte und Täter seien heute nicht dieselben wie damals, sagte Steinmeier in Yad Vashem. „Aber es ist dasselbe Böse.“ Den vertretenen rund 50 Staats- und Regierungschefs aus aller Welt versprach er: „Wir bekämpfen den Antisemitismus! Wir trotzen dem Gift des Nationalismus! Wir schützen jüdisches Leben! Wir stehen an der Seite Israels.“

Bei seinem Besuch in Auschwitz schrieb der Bundespräsident ins Gästebuch: „Es waren Deutsche, die andere Menschen herabgewürdigt, gefoltert und gemordet haben. Wir wissen, was geschehen ist, und müssen wissen, dass es wieder geschehen kann.“

Rivlin hatte bei einer Diskussionsrunde mit Schülern eines jüdischen Gymnasiums am Dienstag gesagt: „Wir haben jetzt die vierte, fünfte, sechste Generation nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg. Wir müssen einen Weg finden, um Euch und Eure Kinder wissen zu lassen, was passiert ist, und zu vermeiden, dass sich dies wiederholt.“ Der israelische Präsident warnte, es gebe wieder „Wellen von Antisemitismus, Hass und Rassismus“ in der ganzen Welt. (KNA, dpa, epd)

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