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 Jeremy Corbyn. Mit seinem Ausschluss aus der Partei sind alte Gräben bei Labour wieder aufgebrochen.

© Tolka Akmen/AFP

Jeremy Corbyn: Kein Platz für den Ex-Parteichef von Labour

Mit dem Ausschluss des früheren Vorsitzenden aus der Labour-Partei flammt der Streit über Antisemitismus auf - und alte Gräben werden tiefer.

Der Frieden hat ein gutes halbes Jahr gehalten. In dieser Woche sind die die tiefen Gräben in der britischen Labour-Party wieder aufgebrochen – ausgerechnet am Thema Antisemitismus. Nach der Suspendierung des früheren Parteichefs Jeremy Corbyn durch die neue Spitze um Keir Starmer spricht die Parteilinke von Bürgerkrieg und Chaos. Der Vorsitzende gibt sich unbeirrt: „Meine Aufgabe besteht in klarer Führung. Dazu gehört der feste Wille, den Antisemitismus an der Wurzel zu packen.“

Damit knüpfte der Parteichef an die Erklärung an, die er nach seiner Wahl zum Vorsitzenden im April abgegeben hatte. Als vorrangiges Problem seiner ersten Amtsmonate nannte der 58-Jährige damals die Bekämpfung des Antisemitismus in seiner Partei. Das war schon deshalb von eminenter Bedeutung, weil über Labour das Damoklesschwert einer umfassenden Untersuchung durch die unabhängige Menschenrechtskommission EHRC schwebte.

Der nun vorgelegte EHRC-Bericht enthält auf 130 Seiten schwere Vorwürfe. Die Partei habe durch die Diskriminierung jüdischer Mitglieder gegen geltendes Recht verstoßen, heißt es darin. Zwar wird niemand namentlich kritisiert; die Parteispitze um Corbyn und die damalige Generalsekretärin Jenny Formby habe sich aber rechtswidrig in 23 von 70 untersuchten Fällen eingemischt, in denen Mitgliedern antisemitische Äußerungen zur Last gelegt worden waren.

Dazu gehörte auch der Fall des früheren Londoner Bürgermeisters Ken Livingstone, der eine „Israel-Lobby“ bezichtigt hatte, Corbyns Amtsführung zu unterminieren. Livingston hatte mit seiner Äußerung die Abgeordnete Naseem Shah in Schutz nehmen wollen, nachdem diese das Existenzrecht des Staates Israel angezweifelt hatte.

Parteichef Starmer entschuldigt sich bei jüdischen Mitgliedern

In seiner Stellungnahme „an diesem Tag der Schande“ nahm Starmer den Bericht vollständig an. Alle Empfehlungen würden rasch umgesetzt werden, sicherte er zu. „Ich entschuldige mich bei unseren jüdischen Mitgliedern für Kränkung und Verletzung.“ Zum neuen Kurs der Partei gehöre auch, Antisemitismus in keiner Weise herunterzuspielen: „Wer von Übertreibung spricht, hat unrecht und keinen Platz bei Labour.“

Diese Formulierungen habe er seinem Vorgänger am Abend zuvor mitgeteilt, berichtete Starmer am Freitag der BBC. Corbyn hätte also diplomatisch schweigen können. Stattdessen wiederholte der Alt-Vorsitzende seine bekannte Haltung: Er verabscheue Antisemitismus wie jede Form des Rassismus zutiefst. Das Problem sei aber „dramatisch übertrieben worden von Gegnern innerhalb und außerhalb der Partei“. Kurz darauf wurde Corbyns 55-jährige Mitgliedschaft von Generalsekretär David Evans suspendiert, womit der Abgeordnete für Nord-Islington automatisch auch der Fraktion im Unterhaus nicht mehr angehört.

Hinter vorgehaltener Hand ist von "Bürgerkrieg" die Rede

Die Entwicklung rief prominente Parteilinke auf den Plan. Der mächtige Gewerkschaftsboss Len McCluskey nannte die Suspendierung „schlimmes Unrecht“, das Chaos heraufbeschwöre. Die Parteiströmung Momentum sprach von einem „schweren Angriff auf die Linke“; hinter vorgehaltener Hand war vom „Bürgerkrieg“ die Rede.

Mit seiner Erklärung, von der ihm enge Verbündete dringend abgeraten hatten, stellte Corbyn erneut unter Beweis, was ihn als Politiker gerade für junge Leute attraktiv erscheinen ließ. Der 71-Jährige hält an Überzeugungen fest, taktische Finesse, Zweckbündnisse oder Kompromisse sind ihm zuwider. Damit gewann er Hunderttausende, bis heute ist Labour mit mehr als einer halben Million Mitglieder die größte Partei Westeuropas. Gleichzeitig stand Corbyns Unbeweglichkeit seiner Akzeptanz in der Parlamentsfraktion und beim Volk im Weg. Der Veteran sei nun, so das Urteil einer langjährigen Fraktionskollegin, „dorthin zurückgekehrt, wo er jahrzehntelang war: in einen Gegensatz zur offiziellen Politik der Partei“.

Die meisten jüdischen Organisationen neigen den Torys zu

Ohne Zweifel nutzten seine Feinde, nicht zuletzt in den konservativen Medien, die judenfeindlichen Äußerungen einer Minderheit als Waffe gegen den ungeliebten Linkssozialisten. Zudem neigen die meisten jüdischen Organisationen im Land traditionell den Torys zu und betrachten Kritik an Israel generell als antisemitisch. Im Sommer 2018 bezichtigten die drei jüdischen Wochenzeitungen Labour der „Verachtung für Juden und Israel“ und brandmarkten eine mögliche Corbyn-Regierung als „existenzielle Bedrohung für jüdisches Leben in diesem Land“.

Übertreibungen machte sich vor der jüngsten Wahl auch Oberrabbiner Ephraim Mirvis zueigen: An der Urne gehe es um „die Seele der Nation“- eine Stimme für Labour hätte also das Seelenheil des Landes gestört.

Corbyn macht die Suspendierung zum Märtyrer der Parteilinken, Amtsinhaber Starmer hat der Öffentlichkeit gegenüber Führungsstärke bewiesen. Jetzt muss ein Kompromiss her, bei dem beide Seiten das Gesicht wahren.

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