
© AFP/Geoffroy Van der Hasselt
Nach dem Brexit-Votum: Schottlands Regierungschefin "optimistisch" für EU-Verbleib
Schäuble stellt Vertiefung der Euro-Zone in den Hintergrund. Bundeskanzlerin Merkel hält den Brexit für unumkehrbar. Die Entwicklungen im Newsblog.
- Andreas Oswald
- Wiebke Fröhlich
- Kai Portmann
- Julian Graeber
Stand:
- Sechs Tage nach dem historischen Brexit-Votum treffen sich die Chefs von 27 EU-Staaten in Brüssel - ohne das austrittswillige Großbritannien.
- Der britische Premier David Cameron ist nach dem ersten Gipfel-Tag abgereist.
- Bundeskanzlerin Merkel sieht nicht die Stunde von "Wunschdenken".
- US-Außenminister John Kerry glaubt noch an ein Hintertürchen für die Briten.
(mit Agenturen)
Bewerbungsfrist für Cameron-Nachfolge bei Tories endet Donnerstag
Ein ereignisreicher Tag geht langsam zu Ende. Nach dem ersten EU-Gipfel ohne Großbritannien peilen die Mitgliedsstaaten einen Sondergipfel im September an. Schottlands Regierungschefin hofft dennoch weiter auf einen EU-Verbleib ihres Landes.
Auch morgen stehen wichtige Termine an: In London ist das Rennen um die Nachfolge des britischen Premierministers David Cameron in vollem Gange. Bis Donnerstagmittag erwartet die konservative Partei die Bewerbungen der Anwärter auf das Amt des Parteichefs. Dann läuft die Frist ab. Wir verabschieden uns für heute. Auch morgen berichten wir natürlich ausführlich über die Ereignisse nach dem Brexit-Referendum.
Schottlands Regierungschefin optimistisch
Die Gespräche über einen EU-Verbleib Schottlands nach dem Brexit werden aus Sicht von Regierungschefin Nicola Sturgeon nicht einfach. „Ich unterschätze die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, nicht“, sagte Sturgeon am Mittwoch in Brüssel. Sie kam dort unter anderem mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) zusammen, um über die Folgen des britischen Brexit-Votums zu beraten.
„Ich bin nicht hier, um für die Unabhängigkeit (von Großbritannien) zu werben“, sagte Sturgeon. „Ich bin hier, um zu argumentieren, dass Schottland in der EU bleiben sollte.“ Sie kehre „optimistisch“ nach Edinburgh zurück.
Nachdem sich eine große Mehrheit der Schotten für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU ausgesprochen hatte, war von Sturgeon eine Trennung Schottlands von Großbritannien ins Gespräch gebracht worden, um in der EU bleiben zu können. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte dazu: „Schottland hat sich das Recht erworben, in Brüssel gehört zu werden.“

Vodafone droht mit Wegzug aus Großbritannien
Der Mobilfunk-Riese Vodafone denkt laut über die Verlegung seines Hauptsitzes aufs europäische Festland nach. „Die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU war ein wichtiger Faktor für das Wachstum eines Unternehmens wie Vodafone“, hieß es in einer Mitteilung der Unternehmens von Mittwoch. Noch sei es zu früh, Schlüsse für den langfristigen Standort des Hauptsitzes zu ziehen, aber es werde entschieden, „was auch immer zweckmäßig“ für das Interesse von Kunden, Aktionären und Angestellten sei.
Die Freizügigkeit von Arbeitnehmern, Kapital und Gütern sei für europäische Unternehmen so wichtig wie ein einheitlicher Rechtsraum, heißt es weiter. Der Zugang zu einem entstehenden digitalen Binnenmarkt sei für Großbritannien eine „bedeutende Chance“. Derzeit sei unklar, wie viele dieser Vorteile erhalten blieben, wenn Großbritannien die EU tatsächlich verlasse.
Grenzabkommen mit Großbritannien bleibt
Das Brexit-Votum hat auf das Grenzabkommen zwischen Frankreich und Großbritannien nach den Worten des französischen Präsidenten Francois Hollande keine Auswirkungen, da es sich um eine bilaterale Vereinbarung handelt. Das La-Touquet-Abkommen von 2003 gestattet es britischen Beamten, Pässe in Frankreich zu kontrollieren und umgekehrt. Migranten auf dem Weg nach Großbritannien werden daher bereits am französischen Ufer des Ärmelkanals aufgehalten und sammeln sich in Calais.

Merkel schließt Änderung der EU-Verträge aus
Nach dem Votum der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union (EU) wollen die verbliebenen Staaten auf einem Sondergipfel Mitte September die Weichen für Reformen stellen. Ziel sei es, in Zukunft schneller und intensiver auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu reagieren und diese zu meistern, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach dem ersten EU-Gipfeltreffen ohne Großbritannien am Mittwoch, wie dpa berichtet. Europa brauche dabei auch in den Augen der Bürger "eine positive Zielsetzung".
Merkel bezeichnete den ersten Austritt eines EU-Mitgliedstaats als "sehr ernste Situation". Die wirtschaftlichen Folgen auch für Europa seien heute schwer abschätzbar. Die 27 verbliebenen EU-Staaten glaubten aber, dass sie "diese Situation bewältigen können".
Die EU müsse den Bürgern Wohlstand und Sicherheit geben, zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen und die Wettbewerbsfähigkeit stärken, sagte Merkel mit Blick auf die Ziele möglicher Reformen. Ein "ganz besonderer Fokus" müsse dabei auf jungen Menschen liegen. Der Sondergipfel finde am 16. September in Bratislava statt, sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk.
Merkel schloss in der nun anstehenden Reformdebatte Änderungen der EU-Verträge aus. "Das ist jetzt nicht das Gebot der Stunde", sagte sie. In der Diskussion am Mittwoch habe es nur Beiträge ihrer Kollegen gegeben, in denen gefordert worden sei, mit dem bestehenden Instrumentarium "schneller und entschlossener" zu arbeiten. Es sei auch nicht um mehr oder weniger Europa gegangen, sondern darum, "dass die Resultate besser erreicht werden".
Cameron hofft weiter auf Gespräche vor Austrittsverhandlungen
Der scheidende britische Premierminister David Cameron hofft offensichtlich weiterhin auf informelle Gespräche über Großbritanniens zukünftige Beziehung zur EU. Das sagte Cameron am Mittwoch im britischen Parlament. Führende Politiker aus den EU-Mitgliedstaaten und Brüssel hatten zuvor klar gemacht, dass sie erst nach einer britischen Austrittserklärung zu Scheidungsverhandlungen bereit sind. „Ich denke aber nicht, dass davon Gespräche eines neuen Premierministers mit den Partnern oder sogar den EU-Institutionen ausgeschlossen sind“, sagte Cameron am Mittwoch.
"Financial Times": Brexit wird möglicherweise nie offiziell erklärt
David Allen Green, Rechtsexperte der "Financial Times", hält es für sehr gut möglich, dass es nie dazu kommen wird, dass eine britische Regierung den Austritt des Landes aus der EU nach Artikel 50 erklären wird. Er führt dazu konstitutionelle und historische Gründe an. Die Regierungen von Schottland, Wales und Nordirland hätten zwar kein formales Recht, ein Veto einzulegen. Aber sie können sich auf die Konvention berufen, dass ohne ihre Zustimmung kein wichtiges Gesetz Wirklichkeit wird. Verweigern sie ihre Zustimmung, kann die Londoner Regierung unter Berufung darauf die Erklärung des Austritts auf unbestimmte Zeit hinauszögern.
Entscheidend ist dabei, was die Regierung in London will. Es gebe derzeit keinen Machtfaktor, der den Brexit wirklich will. Das Parlament ist mit überwältigender Mehrheit gegen einen Brexit. Die Befürworter eines Brexit machen derzeit keine Anstalten, den Prozess zu beschleunigen. Im Gegenteil. Sie haben auch nicht dagegen protestiert, dass die ganze Angelegenheit einer winzigen, nahezu unbedeutenden Behörde in die Hände gelegt wurde: dem Cabinet Office. Weder das Außenministerium noch das Finanzministerium haben die große Aufgabe an sich gerissen.
Wenn die Regierung also nicht will, dann kann sie jahrelang verzögern, und dabei auf andere verweisen. Auch auf die EU, die keine Verhandlungen aufnimmt, bevor der Austritt nicht erklärt ist. Verhandlungen sind für London aber notwendig, wenn Großbritannien keine großen Nachteile durch einen Austritt haben will.
Konstitutionelle Verzögerungen haben im Königreich eine große Tradition, schreibt Green. So sei der Human Rights Act nie in Kraft getreten, der "British Bill of Rights" liegt seit zehn Jahren in der Schublade, ohne dass ein Ende abzusehen wäre. Das Gleiche gilt für die Reform des Oberhauses.
Cameron-Nachfolge: Der erste Kandidat wirft den Hut in den Ring
Im Rennen um die Nachfolge des konservativen Parteichefs und Premierministers David Cameron hat der erste Bewerber seinen Hut in den Ring geworfen, berichtet dpa. Arbeitsminister Stephen Crabb kündigte am Mittwoch an, das Thema Einwanderung in den Austrittsverhandlungen mit der Europäischen Union zur „roten Linie“ zu machen.
Der 43-Jährige gilt als Außenseiter. Weitaus bessere Chancen werden Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May zugestanden. Von beiden wird bis spätestens Donnerstag eine offizielle Bewerbung erwartet. Cameron hatte nach dem Brexit-Votum für einen EU-Austritt Großbritanniens seinen Rücktritt angekündigt.
EU plant Brexit Debatte im September
Die 27 Regierungen der EU peilen für September eine umfassendere Debatte über die Lehren aus Austrittsvotum der Briten an, berichtet Reuters. Der Agentur liegt die Abschlusserklärung des EU-Gipfels vor. Eine politische Reflektion zur Zukunft der Staatengemeinschaft werde beim informellen Gipfel am Mittwoch in Brüssel begonnen, heißt es im Entwurf der Abschlusserklärung für das Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs, die der Nachrichtenagentur Reuters am Mittwoch vorlag. "Wir kommen auf dieses Thema beim informellen Treffen im September in Bratislava zurück", heißt es weiter. "Die Europäer erwarten von uns bessere Ergebnisse, wenn es darum geht, Sicherheit, Wohlstand und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu liefern." Laut EU-Diplomaten ist das Treffen in der slowakischen Hauptstadt für Mitte September angepeilt. Die Slowakei übernimmt im Juli für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft. Die britische Regierung ist zu dem Treffen nicht eingeladen.
In der Erklärung bekräftigen die 27 EU-Staaten, dass die britische Regierung sobald wie möglich den EU-Rat darüber informieren soll, die Austrittsverhandlungen nach Artikel 50 der EU-Verträge zu beginnen. "Es kann zuvor keine Art von Verhandlungen geben, bevor diese Benachrichtigung stattgefunden hat." Jegliche Vereinbarung, die mit Großbritannien als Drittland ausgehandelt werde, müsse eine Balance von Rechten und Pflichten wahren.
Schäuble: Vertiefung der Euro-Zone nicht im Vordergrund
Eine stärkere Integration der Eurozone hat aus Sicht von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) nach dem „Brexit“-Votum der Briten keine Priorität. „Jetzt steht nicht die Vertiefung der Eurozone im Vordergrund“, verlautete am Mittwoch aus dem Finanzministerium in Berlin, wie dpa berichtet. Es gehe darum, die EU der verbliebenen 27 Länder zusammenzuhalten und zu zeigen, dass ein einzelner Staat die Probleme nicht im Alleingang bewältigen könne.
Zuvor hatte das „Handelsblatt“ unter Berufung auf ein Arbeitspapier von Initiativen Schäubles berichtet, mit denen die 27 EU-Staaten und die Euro-Zone reformiert werden könnten. „Mitgliedstaaten dürfen nicht aus der Eigenverantwortung für stabile Haushalte und wachstumsfreundliche Strukturreformen entlassen werden“, zitiert das Blatt aus dem Papier des Finanzministeriums.
Schäuble erwäge zudem ein „Rückweisungsrecht“ für Haushaltsentwürfe von Euro-Staaten, die EU-Defizitvorgaben nicht einhalten. Dieser Vorstoß wird schon länger diskutiert. Die Umsetzung sogenannter länderspezifischer Empfehlungen könnte an die Vergabe von EU-Strukturfondsmitteln gekoppelt werden.
Für die Überwachung der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten wird laut „Handelsblatt“ eine unabhängige Behörde statt eines Kommissars vorgeschlagen. Auch sollte die EU-Kommission verkleinert werden. Der Euro-Rettungsfonds ESM könnte aufgewertet und zu einem Europäischen Währungsfonds entwickelt werden. Die Bankenaufsicht könnte wieder von der Europäischen Zentralbank (EZB) herausgelöst werden.
Linker Ökonom Thomas Piketty hört als Labour-Berater auf
Der angesehene französische Ökonom Thomas Piketty hat seine Arbeit als Berater der britischen Labour-Partei aufgegeben. Das berichtet Sky News.
Piketty habe dies schon vor ein paar Wochen getan und dafür fehlende Zeit als Grund genannt. Doch habe er auch Kritik an der wenig überzeugenden Kampagne von Labour gegen einen EU-Austritt Großbritanniens geübt. Labour-Chef Jeremy Corbyn geht derzeit die Unterstützung in seiner Partei verloren, weil ihm die Halbherzigkeit der Kampagne vorgeworfen wird.
Piketty ist ein profilierter Vertreter der linken Wirtschaftswissenschaft und hat mit seinem Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" für Furore gesorgt.
Asselborn will weg vom Bild der EU als "Eliteprojekt"
Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hat mehr soziale Gerechtigkeit in Europa gefordert. "Dieses Referendum in anderen Ländern der Europäischen Union könnte zum selben Resultat führen", warnte Asselborn im ARD-"Morgenmagazin" angesichts von Forderungen nach Volksabstimmungen wie in Großbritannien in mehreren EU-Staaten.
Die Menschen seien nicht gegen Europa, sondern gegen das derzeitige politische Europa. Das müsse verbessert werden. "Wir müssen in Brüssel wegkommen von diesem Theater, was oft gespielt wird", sagte Asselborn.
Die Europäische Union müsse etwa verstärkt gegen die Jugendarbeitslosigkeit von rund 14 Millionen Menschen vorgehen. "In den Köpfen vieler Menschen sind wir ein Eliteprojekt", sagte Asselborn.
Davon müsse Europa sehr schnell wegkommen. Wachstum alleine reiche nicht; die EU müsse den Mehrwert, der dadurch geschaffen werde, sozial gerecht verteilen. "Wir haben noch Verantwortung für über 440 Millionen Menschen. Wir müssen das schaffen", so der luxemburgische Politiker.

Wann ist Jean-Claude Juncker dran?
Alle schauen nach London und reden darüber, wer wohl dort dem Regierungschef nachfolgt. Einen muss es ja geben, der den Austrittsantrag in Brüssel abgibt. Und bei wem? Die Frage wird gestellt - denn es wird auch über EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker geredet. Nicht nur positiv; und nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand. Es gibt Zweifel, ob er noch der richtige Mann ist.
Lesen Sie hier eine Einschätzung in der Morgenlage von Tagesspiegel-Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff
Resteuropa bespricht sich in Brüssel
Nur sechs Tage nach dem historischen Brexit-Votum der Briten treffen sich die Chefs von 27 EU-Staaten zur Stunde in Brüssel - ohne das austrittswillige Großbritannien. Sie wollen über die Zukunft der Europäischen Union sprechen, wie EU-Ratspräsident Donald Tusk ankündigte.
Mit dieser Zusammenkunft bricht eine neue Ära an. Diplomaten sagten, es solle auch ein erster Zeitplan für das weitere Vorgehen skizziert werden. Eine Wegmarke steht schon fest: Im September soll es im slowakischen Bratislava einen informellen Sondergipfel geben - wieder ohne die Briten.
Schottlands Regierungschefin trifft am Nachmittag Juncker
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon trifft am Nachmittag EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Sturgeon will bei ihrem Besuch in Brüssel die Chancen auf eine weitere Mitgliedschaft in der EU ausloten. Sie kommt auch mit Parlamentspräsident Martin Schulz und anderen führenden Abgeordneten zusammen.
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