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Abhängig vom Daddeln. Mit der Pandemie ist die Mediensucht unter Jugendlichen stark gestiegen.

© picture alliance / Patrick Seeger/dpa

Ersatz für fehlende Sozialkontakte: Mediensucht bei Jugendlichen in der Pandemie stark gestiegen

Lockdowns und Kontaktbeschränkungen ließen die Mediensucht bei Jugendlichen hochschnellen. Die Zahl pathologischer Computerspieler stieg um 52 Prozent.

In der Corona-Pandemie ist die Mediensucht von Kindern und Jugendlichen enorm gestiegen – und zwar sowohl beim sogenannten Gaming als auch bei der Nutzung von Social Media. Das zeigen Ergebnisse einer gemeinsamen Längsschnittuntersuchung der DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE), die dem Tagesspiegel Background vorliegen und heute veröffentlicht werden.

Demnach nutzen mittlerweile 4,1 Prozent aller Zehn- bis 17-Jährigen in Deutschland Computerspiele in krankhafter Weise. Hochgerechnet sind das rund 220.000 Jungen und Mädchen, was im Vergleich zu 2019 einen Anstieg um 52 Prozent bedeutet. Bei Social Media erhöhte sich der Anteil der pathologischen Nutzung von 3,2 auf 4,6 Prozent – ein Anstieg um knapp 44 Prozent auf fast 250.000 Betroffene.

Laut Studie hängt der Anstieg der Mediensucht eng mit längeren Nutzungszeiten zusammen. Beim Gaming beträgt die durchschnittliche Spielzeit pro Werktag inzwischen 109 Minuten. Das sind 31 Prozent mehr als vor Corona. Im April 2020 waren es sogar ganze 132 Minuten täglich – der Höchstwert der gesamten Pandemiezeit.

Im September 2019 verbrachten Jugendliche an einem durchschnittlichen Wochentag lediglich 83 Minuten mit digitalem Spielen. Bei der Nutzung sozialer Medien kommen Kinder und Jugendlichen auf 139 Minuten pro Werktag. Im November waren es noch116 Minuten.

Jungs stärker betroffen als Mädchen

Betroffen sind von dem wachsenden Problem der Mediensucht vor allem Jungs. Beim Gaming zeigten zuletzt 3,2 Prozent von ihnen ein pathologisches Verhalten. Die Quote unter den Mädchen beträgt hier nur 0,9 Prozent. Bei Instagram, Facebook, TikTok & Co. ist der Unterschied etwas weniger stark ausgeprägt, allerdings sind Jungen auch hier mit 3,1 Prozent doppelt so oft abhängig wie Mädchen (1,5 Prozent).

Für die Untersuchung hat das Forsa-Institut die Minderjährigen und ihre Eltern zu vier Messzeitpunkten befragt: im September 2019, im April 2020, im November 2020 und im Mai 2021. Die Studie ist repräsentativ und bislang weltweit einzigartig, befragt wurden bundesweit – und jeweils viermal – insgesamt 1200 Familien.

Die problematische Nutzung digitaler Spiele und sozialer Medien habe unter der Corona-Pandemie „signifikant zugenommen“, sagte Rainer Thomasius, Studienleiter und Ärztlicher Leiter beim Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kinder- und Jugendalters am UKE.

Vor allem sei der Anstieg auf die wachsende Zahl pathologischer Nutzer unter den Jungen zurückzuführen, betonte der Experte. Auffällig sei aber auch der Anteil der Betroffenen unter den Zehn- bis 14-Jährigen. Unter ihnen beträgt die Quote der krankhaft Spielsüchtigen auch bereits 2,6 Prozent.

Digitale Medien seien für Kinder und Jugendliche „ein relevantes Mittel zum Umgang mit herausfordernden Situationen“, so der Hamburger Professor. Dazu zähle auch die Corona-Pandemie mit ihren vielen einschränkenden Maßnahmen.

Allerdings führe eine exzessive Mediennutzung oft zu Kontrollverlust mit weitreichenden Folgen. „Da persönliche, familiäre und schulische Ziele in den Hintergrund treten, werden alterstypische Entwicklungsaufgaben nicht angemessen gelöst.“ Die Folge sei ein „Stillstand in der psychosozialen Reifung“. Die Ergebnisse der Studie machten einmal mehr deutlich, wie wichtig Präventions- und Therapieangebote für Kinder und Eltern seien.

Lockdowns als „erheblicher Gefährdungsfaktor“

Gerade für Kinder und Jugendliche mit bereits riskanter Mediennutzung seien die Lockdowns ein „erheblicher gesundheitlicher Gefährdungsfaktor“ gewesen, „der den Übergang in eine pathologische Mediennutzung quasi katalysiert hat“, so Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Es sei zu befürchten, dass sich diese Fehlentwicklung auch nach dem Ende der Pandemie nicht einfach vollständig rückabwickeln lasse.

Der Vorstandschef der DAK, Andreas Storm, drängt gleichwohl auf Konsequenzen. Der Anstieg der Computerspiel-Abhängigkeit um mehr als 50 Prozent sei „alarmierend“, sagte er. Die Gesundheitspolitik müsse „die zunehmende Mediensucht bei jungen Menschen stärker in den Fokus nehmen“. Es brauche „eine breite Präventionsoffensive“, um die Medienkompetenz von Kindern und Eltern zu stärken. 

Wichtig sei zudem verstärkte Aufklärung und Vorsorge, etwa durch ein „Mediensucht-Screening“ bei Kinder- und Jugendärzten. Und um generell die Folgen der Pandemie für die Kinder- und Jugendgesundheit analysieren und aufarbeiten zu können, forderte der Kassenchef zum wiederholten Male eine Enquete-Kommission im Bundestag.

Digitale Mediennutzung sei „gerade jetzt während der Pandemie Fluch und Segen zugleich“, sagte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig, dem Tagesspiegel Background auf Anfrage. „Ohne digitale Tools geht kein Homeoffice, kein Einkaufen, kein weltweites Kommunizieren. Aber wir sehen an den aktuellen Ergebnissen der DAK Studie, wie schnell aus sinnvoller Nutzung krankhafte Nutzung werden kann.“

Wirklich Sorge bereite ihr, „dass es in vielen Familien keinerlei Regeln für den Umgang mit Konsolen, Tablets oder Smartphones zu geben scheint“, so die CSU-Politikerin. Dabei seien diese „immens wichtig“. Kinder müssten lernen, was sinnvolle und unsinnige Medien voneinander trennt, wie viel Medienzeit noch gesund und was von den Inhalten kindgerecht sei.

Bei der Hälfte der Familien keinerlei Regeln

Tatsächlich belegt die DAK-Studie, dass rund die Hälfte aller Eltern keinerlei Regeln zu Art und Dauer der Nutzung digitaler Medien aufstellt. Dieser Wert habe sich im Verlauf der Pandemie kaum geändert, heißt es darin. Als Begründung für die verstärkte Nutzung von Social Media und Gaming gaben 73 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen an, auf diese Weise ihre sozialen Kontakte aufrechterhalten zu haben. 71 Prozent will der Mediennutzung Langeweile bekämpfen. Und ein Drittel der Befragten gab an, damit Stress abbauen oder Sorgen vergessen zu können.

Als Antwort auf die steigende Mediensucht verstärkt die DAK-Gesundheit nun gemeinsam mit dem BVKJ die Prävention durch ein Pilotprojekt. Seit Oktober 2020 gibt es bei 12- bis 17-Jährigen eine neue zusätzliche Vorsorgeuntersuchung, die das Mediennutzungsverhalten ins Visier nimmt.

In Bremen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen können rund 70.000 Jungen und Mädchen die Früherkennung ergänzend zu den Vorsorgeuntersuchungen J1 und J2 nutzen. Insgesamt bieten in diesen Ländern mehr als 1.200 Kinderärztinnen und Kinderärzte ein spezielles Mediensucht-Screening für DAK-Versicherte an.

Grundlage ist die so genannte GADIS-A-Skala (Gaming Disorder Scale for Adolescents), die von Suchtforschern des UKE Hamburg entwickelt wurde und jetzt erstmals in der Praxis eingesetzt wird. Zudem gibt auf www.computersuchthilfe.info auch für Betroffene und deren Angehörige von anderen Kassen kostenlos Information und Hilfestellung.

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