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 Der Unionsfraktionsvorsitzende Friedrich Merz (CDU)+

© Foto: dpa/Angelika Warmuth

Merz und die „Sozialtouristen“ aus der Ukraine: Hat der CDU-Chef ein Kommunikationsproblem oder ist das Kalkül?

Für seine Behauptung erntet der CDU-Chef viel Kritik. Die russische Propaganda greift seine Aussage gleich auf. Mittlerweile hat er sich dafür mehr oder weniger entschuldigt, aber in einem Punkt hat er Recht.

| Update:

Friedrich Merz hat das Privileg gehabt, im eigenen Schlafwagen nach Kiew zu reisen. Der Alltag sieht weniger komfortabel aus. Am Grenzbahnhof im polnischen Przemysl warten hunderte Menschen, vor allem Frauen, spätabends auf die Weiterfahrt nach Kiew, Kinder klammern sich an ihre Kuscheltiere. Der Nachtzug ist komplett ausgebucht, die Stimmung angespannt im überfüllten Großraumwaggon; alle Scheiben sind mit Plastikfolien abgeklebt, als Schutz gegen Glassplitter bei Detonationen.

Am nächsten Morgen warten am Kiewer Hauptbahnhof Dutzende Männer mit Blumensträußen. Diese sich täglich wiederholenden Szenen, wie auch ein Tagesspiegel-Reporter im August bei einer Recherchereise erleben konnte, brennen sich ein, Kinder und Frauen, die ihre Väter und Männer minutenlang an sich drücken, Tränen, die fließen.

Mit der Verlagerung des Kriegsgeschehens in den Osten nutzen seit dem Sommer viele ukrainische Staatsbürger die Möglichkeit, die Heimat und ihre Liebsten zu besuchen. „Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge, nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine“, hat CDU-Chef Friedrich Merz nun bei „Bild TV“ dazu gesagt. Diese Aussagen wurden auch über seinen Twitter-Account verbreitet, dann gelöscht und Merz ruderte Dienstagmorgen zurück.

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„Ich bedauere die Verwendung des Wortes „Sozialtourismus“. Das war eine unzutreffende Beschreibung eines in Einzelfällen zu beobachtenden Problems“, schrieb Merz bei Twitter, als sich eine Empörungswelle aufbaute, passt doch die pauschale Diffamierung so gar nicht in das von ihm gezeichnete Bild der fast grenzenlosen Solidarität mit der Ukraine. „Wenn meine Wortwahl als verletzend empfunden wird, dann bitte ich dafür in aller Form um Entschuldigung“, so Merz.

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Russlands Propaganda nahm den Ball auf

Die russische Propaganda hat da den Ball schon dankbar aufgenommen: „Deutscher Oppositionsführer wirft Flüchtlingen aus der Ukraine Sozialtourismus vor“, melden Medien in Moskau. Der scheidende ukrainische Botschafter Andrij Melnyk meint zu Merz’ Aussagen: „Woher kommt dieser Unsinn über angeblichen „Sozialtourismus“ von ukrainischen Kriegsflüchtlingen? Sie haben das Recht, Ihre Heimat jederzeit zu besuchen.“ Das sei blanker Populismus. „Heiliger Bimbam.“

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Und Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) betont: „Wenn Menschen teils unter Lebensgefahr zwischen Deutschland und der Ukraine pendeln, dann ist das kein Sozialtourismus. Vielleicht ist es einfach Sorge um die eigenen Angehörigen, den eigenen Mann oder Vater, die Militärdienst leisten, oder die eigene Heimat?“

Friedrich Merz war ein großer Treiber der Lieferung auch schwerer Waffen an die Ukraine, besuchte Wochen vor dem Kanzler Kiew und die von der russischen Armee zerstörten Vororte, ließ keinen Zweifel an der Unterstützung aufkommen, hielt engen Draht zu führenden Politikern des Landes. Warum er nun diesen Begriff in Bezug auf die Ukraine-Flüchtlinge in die Welt gebracht hat, bleibt vorerst sein Rätsel.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei (CDU), betont, Merz habe eine „sicherlich sehr zugespitzte Formulierung“ verwandt. Es lägen ihm aber keine entsprechenden Zahlen vor, die die Lage bei den Flüchtlingen abschließend bewerten könnten, so Frei. Rückendeckung klingt anders. Auch wenn wenige in der Union über die Aussagen erbaut sein dürften, wird Merz am Dienstag mit 87 Prozent als Unions-Fraktionschef im Amt bestätigt.

Reger Reiseverkehr

In einem Punkt hat Merz aber Recht, es gibt einen regen Reiseverkehr zwischen Berlin und Kiew und zurück. „Alle unsere Züge sind permanent voll“, sagt die Sprecherin der ukrainischen Eisenbahn auf Tagesspiegel-Anfrage. Am Berliner Hauptbahnhof sind Tickets über Polen nach Kiew teils für mehrere Wochen ausgebucht, das Gleiche gilt für die Route zurück. Auch das Unternehmen Flixbus betont, dass die meisten Verbindungen zwischen der Ukraine und Deutschland „aktuell über mehrere Wochen ausgebucht sind“.

Das ist erstmal für Außenstehende überraschend, hat aber in der Regel mit der Kriegssituation und Gefühlen wie Sehnsucht und Vermissen der Heimat zu tun.

Ein Teil der Reisenden bleibt dauerhaft dort, bekommt dann aber auch keine Leistungen mehr in Deutschland. Der größte Teil reise nach ein, zwei Wochen zurück, heißt es bei der ukrainischen Eisenbahn. Eine nach Berlin geflüchtete Ukrainerin beschreibt es so. „Es ist eine logische Kette: Sie sind in einem tiefen Stress gekommen, die ersten Wochen müssen sich um all die bürokratischen Dinge im Gastland kümmern, dann brauchen sie zwei bis drei Monate, um Geld zu sparen, und dann können sie in die Ukraine reisen.“

Merz suggeriert jedoch, dass es größere Fälle von Sozialmissbrauch gebe, also ein Einreisen, Leistungen beantragen und zurückreisen. Das zuständige Bundesarbeitsministerium kann das nicht bestätigen: „Weder dem Bundesarbeitsministerium noch der Bundesagentur für Arbeit liegen Erkenntnisse zu dem angeblichen „Sozialtourismus der Ukrainer“ vor.“ Die Geflüchteten können in Deutschland Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und seit dem 1. Juni auch Geld vom Jobcenter beantragen - wenn Sie erwerbsfähig sind - oder vom Sozialamt, wenn sie zum Beispiel Rentner oder nicht erwerbsfähig sind.

Dafür müssen sie eine Aufenthaltserlaubnis vorlegen. Das Arbeitsministerium betont, dass es im August rund 546 000 Ukrainerinnen und Ukrainer gab, die die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) bekommen haben. Leistungen nach SGB II könne aber nur erhalten, „wer sich im so genannten zeit- und ortsnahen Bereich des zuständigen Jobcenters aufhält und postalisch erreichbar ist“.

Sei das ohne Zustimmung des Jobcenters nicht der Fall und stünden die Leistungsbeziehenden deswegen nicht für Eingliederungsmaßnahmen zur Verfügung, dann gäbe es kein Geld. „Ohne dauerhafte Anwesenheit in der Bundesrepublik besteht folglich auch für neu aus der Ukraine eingereiste Menschen kein Leistungsanspruch.“

Merz betont in seinem Rechtfertigungsversuch: „Mein Hinweis galt ausschließlich der mangelnden Registrierung der Flüchtlinge“. Jedoch bekommen eben nur registrierte Flüchtlinge auch entsprechende Sozialleistungen in Deutschland. Im Innenministerium wird aber eingeräumt, dass europaweit ein automatisches Austauschsystem fehle; dass theoretisch erst zum Beispiel in Frankreich und dann in Deutschland Leistungen beantragt werden können. Noch immer hapert es an einer lückenlosen Erfassung der Flüchtlinge; doch der nachträgliche Merz-Hinweis auf Registrierungs-Probleme wirkt wie ein Ablenkungsmanöver. Worauf seine Kritik vor allem abzuzielen scheint: In der Union wird kritisiert, dass die Bundesregierung zu wenig überprüft, ob die Flüchtlinge sich auch wirklich dauerhaft in Deutschland aufhalten - und ob etwa die Jobcenter dies überhaupt ausreichend kontrollieren.

 Er will bewusst einen politischen Kulturkampf vom Zaun brechen

Katja Mast, Geschäftsführerin der SPD-Fraktion

Bisher ist viel über ein Kommunikationsproblem des Kanzlers diskutiert worden, nun hat der CDU-Chef selbst eines, ihm wird mit Blick auf die Landtagswahl am 9. Oktober in Niedersachsen, bei der die CDU eine Niederlage gegen die SPD von Ministerpräsident Stephan Weil fürchten muss, ein Fischen in trüben Gewässern unterstellt. „Er will bewusst einen politischen Kulturkampf vom Zaun brechen und mit immer neuen Grenzverschiebungen den Diskurs nach rechts verschieben“, kritisiert die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion Katja Mast. „Das kennen wir bislang nur von der AfD.“

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