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Pressestimmen zu Pistorius’ Verzicht: „Er lässt seinen angeschlagenen Chef sehenden Auges in die Niederlage krachen“
Viele Medien sehen die Absage von Pistorius für die Kanzlerkandidatur kritisch. Die vergangenen Wochen hätten den Kanzler weiter geschwächt. Deutliche Kritik gibt es auch an der SPD-Parteiführung.
Stand:
Nach der öffentlichen Absage von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius für die SPD-Kanzlerkandidatur sind die Kommentarspalten der deutschen Zeitungen am Freitag überwiegend mit diesem Thema gefüllt. In einer Videobotschaft hatte Pistorius am Donnerstagabend mitgeteilt, dass er nicht zur Verfügung stehe und er sich im Wahlkampf hinter Bundeskanzler Olaf Scholz stelle.
„Doch die SPD täuscht sich, wenn sie glaubt, die richtige Entscheidung herbeigeführt zu haben“, schreibt dazu „Die Zeit“. „Von außen bleibt es schwer begreiflich, dass eine strauchelnde Partei den beliebtesten Politiker des Landes zur Seite drängt, um mit dem unbeliebtesten Bundeskanzler aller Zeiten in den Wahlkampf zu ziehen.“
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Die Entscheidung pro Scholz wirke wie ein Entschluss, der aus der Binnenlogik der Partei heraus getroffen wurde. Sie scheue das Risiko. „Und, das ist vielleicht der traurigste Befund über die Kanzlerpartei SPD im Jahr 2024: Sie lässt Siegeswillen vermissen. Mit Scholz als erfahrenem Wahlkämpfer kann sich die Partei womöglich gerade noch als Juniorpartner in eine große Koalition mit der Union schleppen. Die momentan knapp 18 Prozentpunkte Rückstand allerdings wird man mit dem bei vielen Bürgern in Ungnade gefallenen Kanzler kaum aufholen können.“
Freuen könne sich darüber nur die Konkurrenz. „Allen voran CDU-Chef Merz, der einem Wahlsieg und damit dem Kanzleramt dank dieser Personalentscheidung wohl einen gewaltigen Schritt näher kommt. Doch für viele Sozialdemokraten als auch für den Wahlkampf insgesamt ist der Rückzug von Pistorius eine schlechte Nachricht“, schreibt „Die Zeit“.
„Als würde der Architekt einer Bauruine bei den Nachbarn klingeln und fragen, ob er Ihnen nicht auch so was Schönes hinstellen solle“
Die „Süddeutsche Zeitung“ meint: „Unabhängig vom Ausgang der SPD-Führungskrise halten die vergangenen Tage ein paar wichtige Erkenntnisse über den Zustand der größten Regierungspartei parat. Erstens zeigte sich nach Gerhard Schröder und zuletzt auch Angela Merkel, dass die Trennung von Regierungsamt und Parteiführung zu einer Zerreißprobe führen kann.“
Zweitens offenbare der Vorstoß primär der NRW-Hierarchen in der Partei eine gefährliche Entfremdung zwischen Mittelbau und Führung. „Und drittens bestätigte sich die Uraltweisheit, dass jeder weitere Tag in einem ungelösten Führungskonflikt nur Schaden anrichtet. Scholz oder nicht Scholz, das war ein Zeichen der Orientierungslosigkeit der gesamten Partei und insofern lediglich Spiegel einer gescheiterten Koalition“, kommentiert die „Süddeutsche“.
Der „Spiegel“ schreibt: „Nun tritt Scholz noch einmal als Kanzlerkandidat an, was nur einen Schluss zulässt: Ihm und seiner Partei ist nicht mehr zu helfen. Das ist so, als würde der Architekt einer Bauruine bei den Nachbarn klingeln und fragen, ob er Ihnen nicht auch so was Schönes hinstellen solle.“
„Sollte Scholz ernsthaft glauben, dass er noch einmal Kanzler wird, müsste man sich Sorgen um seinen geistigen Zustand machen. Vielleicht glaubt er auch nur, dass er das Schlimmste verhindern, die SPD in die große Koalition retten und mehr Prozentpunkte holen kann als Boris Pistorius. Aber auch dazu hätte ihm in den vergangenen Tagen mal jemand aus der Führungsspitze der SPD sagen müssen: Olaf, vergiss es. Hat aber offenbar niemand getan. Oder nicht energisch genug“, schreibt der „Spiegel“.
Die „Wirtschaftswoche“ fragt, ob Boris Pistorius überhaupt ein echter Heilsbringer wäre: „Sicher, Boris Pistorius ist ein klasse Typ. Nahbar, ehrlich, ein Macher. Das Problem der Pistorius-Projektionen, dieses Fiebertraums von anfassbarem Anpackertum mit einer Prise Schröder, war auch ein Symptom. Denn es geht ja nicht nur um Personen, sondern die Partei dahinter: Die SPD findet nicht nur keine Kraft, die nötigen Kurskorrekturen einzuleiten oder durchzusetzen, sie erkennt sie nicht einmal“, schreibt das Blatt.
„Weder in der Wirtschaftspolitik noch beim Sozialstaat, schon gar nicht bei der Migration. Welche Politik hätte Pistorius für die SPD vertreten sollen, außer der eines ‚Weiter so‘, nur ohne Scholz, wo Zukunft nur möglich ist, wenn die Schuldenbremse aufgeweicht wird?“, so die „Wirtschaftswoche“.
„Dass es zuletzt zu einer regelrechten Rivalität zwischen Scholz und seinem Verteidigungsminister gekommen ist, hat allerdings die SPD-Parteispitze zu verantworten“, meint die „Rheinpfalz“. „Den aufkeimenden Sympathiebekundungen für Pistorius – zunächst von Abgeordneten, dann von Ex-Parteichefs, schließlich von mächtigen Parteigruppierungen – hätten Lars Klingbeil und Saskia Esken ein schnelles und klares Votum für Scholz entgegenhalten müssen.“
„Diese SPD ist nicht einmal imstande, die eigenen Führungsfragen zeitnah zu klären“
„Sie taten es nicht. Das belegt, dass die Vorsitzenden auf einen Verzicht von Scholz gehofft oder damit gerechnet haben. Die Unfähigkeit (oder Unlust), die Diskussion um den richtigen Kanzlerkandidaten frühzeitig zu beenden, hat Scholz erheblich beschädigt. Er startet mit einer schweren Hypothek in den Wahlkampf“, schreibt das Blatt aus Ludwigshafen.
Die Berliner „Tageszeitung“ sieht eine Debatte, „die Brandwunden“ bei allen Beteiligten hinterlasse. „Zum einen bei der Parteiführung um Lars Klingbeil, Saskia Esken und Matthias Miersch, die einen Wahlkampf vorbereitet, der den Leuten klarmachen soll, dass die SPD, die richtige Partei ist, dieses Land zu führen.“
„Nur wer soll das glauben, wenn genau diese SPD nicht einmal imstande ist, die eigenen Führungsfragen zeitnah zu klären, sondern stattdessen Verunsicherung und Irritationen zuließ?“
„Also lässt er seinen angeschlagenen Chef sehenden Auges in die Niederlage krachen“
Die Diskussion der letzten Tage beschädige aber auch Olaf Scholz. Denn er gehe als der Kanzlerkandidat ins Rennen, dem die Partei nur bedingt vertraut. „Das zeigt sich an Äußerungen von Orts- und Kreisverbänden und von Bundestagsabgeordneten. Das zeigt sich aber auch am Zögern der Parteispitze“, schreibt die „taz“.
Die „Volksstimme“ aus Magdeburg schreibt: „Bei näherem Hinsehen dürfte Pistorius’ vermeintlich selbstloser Rückzug von strategischer Natur sein: Seine SPD liegt in Umfragen abgeschlagen bei aktuell 14 Prozent – da würde auch seine Popularität das Wahl-Ruder kaum noch herumreißen. Also lässt er seinen angeschlagenen Chef sehenden Auges in die Niederlage krachen.“
„Nach dem 23. Februar werden Scholz und wohl auch all jene in seiner Partei, die sich für die erneute Kandidatur des Noch-Kanzlers eingesetzt haben, keine führende Rolle mehr spielen. Aber Pistorius stünde dann ohne Verlierer-Makel bereit, nicht mehr die Bundeswehr, sondern die alte Dame SPD zu verlorener Stärke zu führen“, so die „Volksstimme“.
Die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ aus Essen meint, große Teile der SPD in NRW hätten sich in den vergangenen Wochen zu weit aus dem Fenster gelehnt: „Die kaum verhohlene Unterstützung für Boris Pistorius, zugleich ein beispielloses Misstrauensvotum gegen den amtierenden Kanzler, sollte eine Machtdemonstration sein, ein Aufstand der Basis gegen die in Berlin – ein Aufstand nicht irgendeiner Basis, sondern mitten aus der Herzkammer der Sozialdemokratie. Nun ist es eine Ohnmachts-Demonstration geworden. Und am Ende sind alle beschädigt“, schreibt die „WAZ“.
„Beschädigt sind aber auch die Vorsitzenden der NRW-Landesgruppe im Bundestag, Wiebke Esdar und Dirk Wiese, die den Vorstoß gegen Scholz gewagt hatten, sowie der NRW-SPD-Chef Achim Post, der die beiden Abgeordneten unterstützt hatte. Sie werden nun noch mehr Mühe haben, ihre erwartungsenttäuschten Parteimitglieder an Rhein und Ruhr zu motivieren, Wahlkampf für den Zweitbesten zu machen. Ein Desaster“, schreibt die „WAZ“.
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