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"Respekt-Rente": Sucht die SPD den Fluchtweg aus der Großen Koalition?

Das Bündnis von Union und SPD steckt in der Krise. In Berlin diskutiert man, wie lange es noch hält. Hubertus Heils Rentenplan könnte ein Scheidungsbrief sein.

Von Robert Birnbaum

Auf den ersten Blick ist es nur eine Notiz für die norddeutschen Lokalnachrichten: In Bremen rückt vier Monate vor der Bürgerschaftswahl die CDU in einer Umfrage um ein Prozentpünktchen vor die SPD – 25 zu 24, vermeldet am Freitag der „Weser-Kurier“. Bremen hat keine 600.000 Einwohner, die Landtagswahl findet im Schatten der Europawahl am gleichen Sonntag statt. Trotzdem hat an jenem 26. Mai ein Zwergstaat das Zeug, die Ära Angela Merkel abrupt zu beenden. Bremen ist seit Anbeginn SPD-Land. Eine Niederlage in ihrer letzten Hochburg könnte in der Bundes-SPD die Kettenreaktion auslösen, die die zunehmend labile Koalition zersprengt.

Wie ist die Lage in der SPD?

Man muss dieser Tage gar nicht allzu tief hineinhorchen in die SPD wie in die CDU, um festzustellen: Das Szenario haben alle Maßgeblichen im Regierungsviertel klar vor Augen. Die Brüche im Gefüge sind ja auch nicht zu übersehen. In der SPD demontieren Ehemalige die Parteichefin Andrea Nahles auf offener Bühne: Altkanzler Gerhard Schröder vorweg, immer deutlicher auch der Ex-Vorsitzende Sigmar Gabriel. Im „Spiegel“ gibt Gabriel ein „Gefühl“ zu Protokoll, dass der Koalitionsvertrag nicht auf „Herausforderungen von morgen“ ausgerichtet sei. Die SPD müsse für Modernisierung von Wirtschaft, Staat und sozialer Sicherheit eintreten. Wenn die Union nicht mitmache, „muss man gehen“.

Formal zielt das auf das Jahresende und die im schwarz-roten Koalitionsvertrag verankerte „Revisionsklausel“ zur Halbzeit. Aber in der SPD wie in der Union registrieren alle aufmerksam, wie rasant Nahles’ Position von den eigenen Leuten erschüttert wird. „Und niemand springt ihr bei“, sagt ein Christdemokrat achselzuckend.

Im Gegenteil: Gabriel drängelt sich ausgerechnet vor einer SPD-Klausur in den Vordergrund, bei der Nahles ein Paket voll sozialdemokratischer Seelenwärmer-Projekte vorlegt. Die Versicherung, dass er „mit Sicherheit“ nicht über neue Ämter für sich selbst nachdenke, glaubt dem Ex-Parteichef in der SPD sowieso keiner und in der Union auch niemand.

Wie ist das Verhältnis der SPD zur Union?

Innerhalb des Regierungsgefüges regieren ebenfalls Misstrauen und Profilierungsspiele. Da sind die Sticheleien von Finanzminister Olaf Scholz gegen den Koalitionspartner – der Sozialdemokrat wendet das Mantra der „schwarzen Null“ in Zeiten, in denen die Steuern nicht mehr so üppig sprudeln, neuerdings mit Vorliebe gegen die Etats von CDU-Kollegen wie Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Da ist die Unsicherheit, auch bei Merkel, wie tragfähig Absprachen mit der SPD-Chefin oder dem Vizekanzler überhaupt noch sind.

Und da ist die „Respekt-Rente“. Was auf den ersten Blick wie die Umsetzung eines Koalitionsvorhabens aussah – Menschen nach einem langen Arbeitsleben die Rente über die Grundsicherung aufzustocken – erweist sich als Kampfansage. Denn Arbeitsminister Hubertus Heil will, anders als im Koalitionsvertrag ausdrücklich vereinbart, auf eine Bedürftigkeitsprüfung verzichten.

Beim CDU-Sozialflügel findet das Konzept sogar Unterstützung. Andere in der Union beschäftigen indes weniger die inhaltlichen Details als das taktische Motiv hinter Heils Vorstoß gegen das Vereinbarte. „Will er sich sozialdemokratisch profilieren“, fragt ein Christdemokrat, „oder ist das der Scheidungsbrief?“

Der Scheidungsbrief – das erinnert an das legendäre „Lambsdorff-Papier“. 1982 vom damaligen Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff verfasst, lieferte es der FDP die Rechtfertigung für den Partnerwechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl. Die Thesen des „Marktgrafen“ waren selbst für den wirtschaftsnahen SPD-Kanzler eine Provokation.

Heils Vorstoß kommt verdeckter, könnte aber die gleiche Wirkung entfalten. Und er ist genau so gemeint. Die „Respekt-Rente“ könne zum Knackpunkt werden, „muss aber nicht“, sagt ein führender Sozialdemokrat. Doch das setze voraus, dass die Union einlenke. Denn klar sei, dass sich so etwas wie der Fall Maaßen nicht wiederholen dürfe.

Die Kabale um den Verfassungsschutzchef gilt in der SPD als Ursünde: Erst wuchtige Forderung, dann einknicken und im Rückzug den Fallstrick übersehen – was Nahles damals passiert ist, will Heil auf gar keinen Fall wiederholen.

Damit steht eine Schlachtaufstellung: Endet der Wahlsonntag im Mai für die SPD katastrophal, könnte sie das Projekt des Niedersachsen Heil zum formalen Bruchpunkt machen. Das würde zumindest den Anschein erhalten, dass man erhobenen Hauptes aus dem Bund mit Merkel aussteigt und nicht nur aus Angst vor der Bedeutungslosigkeit.

Wie beurteilen CDU und CSU die Lage?

Bei der Union wäre ein Ausstieg der SPD vielen ganz recht. Denn auch in der CDU – weniger der CSU – denken sie über Wege aus der Koalition nach. Noch reicht der frisch gewählten CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer der Flair der Neuen. Die Saarländerin nutzt ihn systematisch. Sie ist die Attraktion auf den wichtigen CDU-Neujahrsempfängen. Beim Antrittsbesuch in Brüssel wollen alle die Frau sehen, die gute Chancen hat, die nächste Kanzlerin zu werden. Das „Werkstattgespräch“ zur Flüchtlingspolitik gemeinsam mit der CSU am Wochenende soll zügig alten Ballast abwerfen.

Aber allzu lange hält der Reiz des Neuen nicht. Die Anhänger ihres unterlegenen Konkurrenten um den CDU-Vorsitz, Friedrich Merz, erwarten von Kramp-Karrenbauer, dass sie mit dem Koalitionsausschuss als Hebel mehr „CDU pur“ durchsetzt. Ein alter Parteihase vermerkt besorgt, dass die steigenden Umfragewerte – in Bremen, in Brandenburg, im Bund – in der Unionsfraktion schon wieder zu einer kompromissunwilligen „Uns kann eh keiner was“-Pose führten.

Aber Merkel weiß ohnehin, dass der Moment rasch kommen kann, an dem sie ihrer Wunschnachfolgerin den Weg frei machen muss. Einfach ist das nicht. Das Grundgesetz verurteilt amtierende Kanzler regelrecht, bis zur Wahl eines Nachfolgers auf Posten zu bleiben. Die Methode Schröder, eine vorsätzlich verlorene Vertrauensfrage, dürfte an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier scheitern.

Kommen bald Neuwahlen?

Erst ein echtes Misstrauensvotum wäre ein verfassungsmäßig sauberer Weg zu Neuwahlen. Zwangsläufig sind die andererseits nicht. Kramp-Karrenbauer könnte auch versuchen, Jamaika wieder zu beleben. FDP-Chef Christian Lindner wäre leicht zu kriegen; eine zweite Absage kann er sich gar nicht leisten. Für die Grünen wäre die Frage komplizierter: Als kleinster der drei Partner mitregieren – oder gleich austesten, wie weit die 20-Prozent-Umfragen in Wahlen tragen?

Doch vorher muss die große Koalition ja erst mal wirklich scheitern. In der Union hoffen viele fest auf die SPD. Wer selbst aussteigt, muss fürchten, von stabilitätsliebenden Wählern abgestraft zu werden. Andererseits – Kramp-Karrenbauer hat schon einmal gezeigt, dass sie dieses Risiko nicht scheut. An der Saar warf sie 2012 genervt die FDP aus einem Jamaika-Bündnis und bat SPD-Landeschef Heiko Maas zur großen Koalition. Merkel wurde damals am Telefon laut. Die Parteichefin fand den Crashkurs zu gewagt. Ihre jetzige Nachfolgerin nicht.

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