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Rund 863.000 Patienten betroffen: Koalition prüft offenbar Streichung von Pflegegrad 1
Die schwarz-rote Koalition will auch im Sozialsystem kürzen. Einem Medienbericht zufolge steht zur Debatte, ob der unterste Pflegegrad entfallen soll. Aus der Opposition kommt scharfe Kritik.
Stand:
Wegen der enormen Lücken im Haushalt sucht die Bundesregierung nach Möglichkeiten, Geld einzusparen. Im Fokus steht dabei auch der Umbau der Sozialsysteme. Neben einer Reform des Bürgergelds und möglichen Änderungen bei den Krankenkassenleistungen geht es auch um die Leistungen in der Pflege.
Angesichts der Finanzierungslücke von rund zwei Milliarden Euro in der gesetzlichen Pflegeversicherung 2026 steht einem Medienbericht zufolge dabei innerhalb der schwarz-roten Regierung auch zur Debatte, den Pflegegrad 1 zu streichen.
Dies berichtet die „Bild am Sonntag“ unter Berufung auf übereinstimmende Angaben von führenden Koalitionspolitikern aus den Parteien und Fraktionen. Auch in den Koalitionsverhandlungen von Union und SPD war der Pflegegrad 1 nach Teilnehmerangaben bereits Thema.
Einteilung in fünf Pflegegrade
Bedürftige werden in fünf Pflegegrade eingeteilt – je nach ihrer körperlichen und geistigen Verfassung und ihren Pflegebedarf. Je mehr Unterstützung sie brauchen, desto höher der Pflegegrad.
Wie es in dem Bericht weiter heißt, waren Ende 2024 rund 863.000 Menschen in Pflegegrad 1 eingestuft. Dies bedeutet, sie haben eine geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit. Diese Personen beziehen einen monatlichen Entlastungsbetrag von 131 Euro, haben Anspruch auf Zuschüsse zum Umbau der Wohnung und für einen Notrufknopf.
Eine Berechnung des RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung beziffert die Einsparung durch Streichung des Pflegegrads demnach auf rund 1,8 Milliarden Euro pro Jahr.
Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums verwies gegenüber dem Blatt auf die eingesetzte und aktuell beratende Kommission zur Pflegereform: „Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflegereform befasst sich umfassend mit den Einnahmen und Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung. Das umfasst auch die Pflegegerade und deren Ausrichtung. Ergebnisse können nicht vorweggenommen werden.“ Bis Mitte Oktober soll ein erster Bericht vorliegen.
Der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Sepp Müller (CDU) sagte der Zeitung: „Die Lohnnebenkosten müssen sinken, anstatt zu steigen. Das muss unser oberstes Ziel sein, um Arbeitsplätze und Wohlstand zu sichern. Deshalb müssen wir alle Instrumente ernsthaft prüfen.“
SPD fordert bei Pflege für Bürger Verlässlichkeit
Der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Christos Pantazis, bestätigte dem Tagesspiegel, dass die Union diesen Vorschlag bereits in die Koalitionsverhandlungen eingebracht habe. „Wir als SPD haben ihn klar zurückgewiesen, und er hat keinen Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden“, sagte Pantazis weiter. „Die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler haben bereits in nie gekannter Höhe Vorleistungen erbracht. Sie brauchen jetzt Verlässlichkeit – nicht ständig neue Testballons, die einzig auf Leistungskürzungen hinauslaufen.“
Einseitige Sparvorschläge lehne die SPD ab. „Was wir brauchen, ist ein Gesamtkonzept zur nachhaltigen Stabilisierung der Pflegeversicherung“, so der Politiker weiter. Die SPD-Fraktion verwahre sich entschieden gegen Leistungskürzungen in der Pflegeversicherung – „unser Ziel ist es, die Pflege solidarisch, verlässlich und nachhaltig zu stabilisieren“.
Ines Schwerdtner, Vorsitzende der Linkspartei, sagte dem Tagesspiegel: „Die Streichung des Pflegegrads 1 ist ein erneuter Angriff auf die, die den ganzen Tag buckeln und am Ende des Monats nichts mehr übrig bleibt. Rund 860.000 Menschen bekommen gerade noch das Nötigste – und genau denen zieht die Regierung nun den Boden unter den Füßen weg.“
Man müsste endlich Beamte, Abgeordnete und Superreiche verpflichten, in eine gemeinsame Pflegeversicherung einzuzahlen.
Ines Schwerdtner, Vositzende der Linkspartei
Statt den Sozialstaat zu stärken, mache Schwarz-Rot Politik nach dem Drehbuch der privaten Krankenversicherungen. „Geld von unten nach oben verteilen. Das ist nichts anderes als ein Schlag ins Gesicht all derer, die seit Jahren in die Pflege- und Krankenversicherung einzahlen und auf Zusammenhalt bauen.“

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Aus Schwerdtners Sicht gäbe es eine einfache Lösung: „Man müsste endlich Beamte, Abgeordnete und Superreiche verpflichten, in eine gemeinsame Pflegeversicherung einzuzahlen. Doch genau davor drückt sich die Regierung, obwohl sie weiß, dass unten nicht mehr viel zu holen ist.“
Scharfe Kritik kommt auch von den Grünen. „Die missratene Pflege- und Finanzpolitik von CDU/CSU und SPD darf nicht auf dem Rücken der Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen ausgetragen werden. So rettet man nicht den Bundeshaushalt – aber man zerstört Vertrauen“, sagte Simone Fischer, Sprecherin für Pflegepolitik.
Statt dringend notwendiger Entlastung und Hilfen im Alltag zusammenzustreichen, müsste Ministerin Nina Warken (CDU) endlich dafür sorgen, dass die Corona-Mehrkosten in Milliardenhöhe in die Pflegeversicherung zurückfließen. „Außerdem ist ein Kostenausgleich zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung dringend geboten – die Risiken sind heute völlig ungerecht verteilt.“
Grüne Fischer kritisiert Warken scharf
Fischer weiter: „Pflege braucht Verlässlichkeit und Perspektive, nicht neue Belastungen für die Millionen Menschen, die Beiträge zahlen, gepflegt werden oder pflegen. Sie brauchen Sicherheit und ein System, das Halt geben soll.“
Warken müsse handeln und Reformen auf den Weg bringen. „Doch die Union zeigt auch hier wieder, dass sie konzept- und ideenlos ist. Statt sinnvolle Reformen direkt anzustoßen und Fehlsteuerungen abzubauen, verschiebt sie drängendste Fragen in Kommissionen und will den Sozialstaat kürzen. Wer Verantwortung trägt, darf nicht bei den Schwächsten sparen. Wer die Pflege wirklich retten will, muss endlich für eine faire Finanzierung sorgen – gerecht, verlässlich, zukunftsfest.“
Angehörige und andere nahe stehende Personen sind der größte Pflegedienst Deutschlands.
Johannes Geyer, Autor einer Studie zur Pflege
Einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, des Deutschen Zentrums für Altersfragen und der Technischen Universität Dortmund zeigte gerade, dass die Pflege älterer Menschen überwiegend durch Familienangehörige und enge Freunde geleistet wird. Vor allem Menschen zwischen 50 und 65 Jahren betreuen außerhalb ihrer eigenen Wohnung die Eltern oder ältere Verwandte.
„Angehörige und andere nahe stehende Personen sind der größte Pflegedienst Deutschlands“, kommentierte Studienautor Johannes Geyer die Ergebnisse der Agentur KNA zufolge. Dieser Trend werde in den kommenden Jahren noch zunehmen.
Die sogenannte informelle Pflege übernehmen der Studie zufolge vor allem Frauen. 64 Prozent der Pflegenden sind weiblich, 36 Prozent männlich. Dabei erfolgt die Pflege meist außerhalb des eigenen Haushalts am Wohnort des Pflegebedürftigen.
Innerhalb des eigenen Haushalts werden meist die Partner gepflegt, entsprechend sind die pflegenden Angehörigen oftmals bereits selbst im Ruhestand.
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