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Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der Grünen

© Leon Kuegeler/File Photo, Reuters

Schon jetzt gibt es viele Konflikte: Den Grünen droht die Verhausschweinung

Falls das Umfragehoch anhält, wird das Dilemma der Grünen deutlicher. Denn interner Streit wird bei Volksparteien durch Umarmungen überdeckt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Da tobt sofort die wilde Wutz. Rund 300 Grüne wollen das Wort „Deutschland“ vom Titel ihres Wahlprogramms streichen. Zur Begründung sagen sie, es ginge um „Menschenwürde und Freiheit in einer globalisierten Welt“. Andere sagen, der Begriff „Deutschland“ könne „negativ assoziiert werden“ und passe eher zur AfD.

Die Parteispitze stöhnt natürlich und wittert einen „anspruchsvollen Parteitag“. Die Parteienkonkurrenz hingegen frohlockt und pendelt zwischen dem harten Vorwurf des Vaterlandsverrats und dem weichen Vorwurf eines ungeklärten Verhältnisses der Grünen zur eigenen Nation. So weit, so bekannt: In diesem Stück kennen alle Beteiligten ihre Rolle auswendig.

Dennoch weist die Posse auf eine Entwicklung hin, die den Grünen, falls ihr Umfragehoch anhält, nicht erspart bleiben wird – ihre Verhausschweinung. Je stärker der Trend weg von einer Themen- und hin zu einer Volkspartei, desto größer die Not, sich bei delikaten internen Streitpunkten ins Ungefähre flüchten zu müssen.

Immer öfter werden wir daher aus grünem Mund die Versicherung hören, es gebe mehrere Strömungen in der Partei, die sich alle „unter einem Dach“ versammelten, „zum Wohle des Ganzen“ und im „gemeinsamen Willen, Politik zu gestalten“. Wer geglaubt hatte, Angela Merkel sei in der Tugend rhetorischer Umarmungen und Vagheiten unschlagbar gewesen, könnte durch eine Kanzlerin Annalena Baerbock eines Besseren belehrt werden.

[Abonnenten von T+ lesen hier mehr über das Netzwerk hinter Annalena Baerbock: Von der Aufpasserin bis zum Strippenzieher – das ist die grüne Machtmaschine]

Schließlich tragen die Grünen schon jetzt Dutzende Konflikte mit sich herum, deren gemeinsames Kennzeichen darin besteht, nicht gelöst werden zu dürfen. Schulmedizin oder alternative Heilmethoden? Am besten beides. Ausbau der digitalen Netzwerke oder mehr Datenschutz? Am besten beides. Vaterlandsliebe oder Vaterlandsdistanz? Am besten beides. Trennung von Staat und Kirche? Na klar, aber Kirchentage sind quasi ein Muss.

Mehr Mittel für Polizei und Verfassungsschutz? Ja, aber möglichst nur gegen Rechtsextremisten. Das Verhältnis zu Russland verbessern? Nein, rufen die Mitglieder des Menschenrechtsflügels. Ja, rufen eher pragmatisch orientierte Realos. Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst? Die einen sagen so, die anderen sagen so.

Warum also grün? Die Antwort fällt schwer

Nun ist das Disparate kein Alleinstellungsmerkmal der Grünen. Auch in Union und SPD gibt es „Flügel“. Die werden vernehmbarer, je näher eine Partei der Macht kommt. Das war sichtbar im Duell von Armin Laschet und Markus Söder. Die Sache sei entschieden, heißt es inzwischen zwar, doch Zweifel bleiben.

Mit Annalena Baerbock und ihren Getreuen verbinden viele die Hoffnung auf einen frischen Wind. Doch in entscheidenden Momenten der deutschen Politik waren die Grünen an Bord, ob sie mitregierten oder nicht. Beim Kosovo- und Afghanistankrieg, dem Ende der Wehrpflicht, bei Hartz IV, der Finanz- und Flüchtlingskrise, der Corona-Pandemie. Inhaltlich unterschied sich die Partei wenig von der großen Koalition.

Bleibt der Klimaschutz als mobilisierendes und identifikationsstiftendes Thema. Doch auf diesem Gebiet ziehen die anderen Parteien bereits kräftig nach. Selbst in der FDP ist Klimapolitik kein Tabu mehr. Warum also grün? Die Antwort fällt schwerer, als die Umfragen vermuten lassen.

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