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29.01.2025, Berlin: Die Abgeordneten der Bundestages stimmen namentlich über Anträge der Unionsfraktion zur Verschärfung der Migrationspolitik und zur inneren Sicherheit ab.

© dpa/FARIHA FAROOQUI

Großer Jubel, tiefe Trauer: Wie die Migrations-Abstimmung Deutschlands Politik aufwühlt

Die AfD ruft eine neue Epoche aus, Linken-Politikerin Reichinnek will die Bürger auf den Barrikaden sehen. Und Friedrich Merz? Den ficht der Aufruhr wenig an. Szenen eines denkwürdigen Tages.

Stand:

Völlig still ist es in dem Moment, bevor Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt das Ergebnis der namentlichen Abstimmung verkündet. 703 Stimmen wurden abgegeben, 348 Ja, 345 Nein, 10 Enthaltungen. „Damit ist der Entschließungsantrag angenommen.“

Sie ist da, die Mehrheit für den Entschließungsantrag der Union für eine Begrenzung der Migration. Zustande gekommen mit Stimmen von CDU und CSU, AfD, FDP, ermöglicht durch die Enthaltung des BSW.

Bald darauf gibt es kein Halten mehr. Triumph und laut heraus gebrüllte Häme bei AfD-Abgeordneten. Sie machen ein Gruppen-Selfie, um den Moment zu verewigen. Das Spiegelbild auf der linken Seite des Parlaments: tiefe Verzweiflung bei SPD, Grünen und Linken. Dazwischen sitzen die Abgeordneten der Union und rühren sich nicht.

Die AfD beim Gruppen-Selfie.

© AFP/JOHN MACDOUGALL

Es wird beantragt, die Sitzung zu unterbrechen. Nacheinander kommen Vertreter der Fraktionen ans Rednerpult. Denkwürdig sind die Worte von Bernd Baumann, parlamentarischer Geschäftsführer der AfD-Fraktion.

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„Das ist wahrlich ein historischer Moment“, sagt er und spricht von einer neuen Epoche. Die Abstimmung bedeute ein „Ende der rot-grünen Dominanz in Deutschland“.

Er sagt auch: „Jetzt beginnt etwas Neues.“ Baumann ruft: „Sie können folgen, Herr Merz, wenn Sie noch die Kraft dazu haben.“ Die Abgeordneten der AfD jubeln und lachen laut. Sie gerieren sich als diejenigen, die nun vorangehen.

Ebenso emotional sind nicht nur Rolf Mützenich und Britta Haßelmann, die für SPD und Grüne sprechen. Sondern besonders auch Heidi Reichinnek, Vorsitzende der Linken-Gruppe.

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„Die Brandmauer in diesem Land, das sind immer noch wir“, sagt sie. „Wir alle werden auf die Straße gehen, wir alle werden an die Wahlurnen gehen. Gebt nicht auf, sondern wehrt Euch“, ruft sie „den Menschen da draußen“ zu. „Leistet Widerstand! Auf die Barrikaden!“

Merz dreht den Spieß um

Und Friedrich Merz? Der lacht, als Reichinnek ihn direkt anspricht. Ihn ficht nicht an, was sie vorzubringen hat. Er hat kurz vor ihr gesprochen und dargelegt, wie er die Sache sieht: Er suche keine anderen Mehrheiten „als die in der demokratischen Mitte“. Wenn es heute eine solche andere Mehrheit gegeben habe, bedauere er das.

Friedrich Merz bei seiner Rede nach der gewonnenen Abstimmung zur Asyl-Wende.

© Imago/Political-Moments/imago

Merz dreht den Spieß um. SPD und Grüne seien jetzt in der Verantwortung, über den Gesetzentwurf zu verhandeln, der am Freitag abgestimmt werden soll. „Wenn Sie sich dieser Verantwortung entziehen, dann bleibt es Ihre Verantwortung.“

Und auch bei der FDP ist man sich keiner Schuld bewusst. „Meine Fraktion wird ihre Meinung zu Anträgen einer demokratischen Partei nicht von radikalen Parteien in diesem Haus abhängig machen“, sagt die Abgeordnete Judith Skudelny. „Demokratie heißt, eine eigene, freie, souveräne Entscheidung treffen zu können.“

Heißt es das, und wenn ja, was genau? Das ist die Frage dieses Tages. Den Zorn einiger Bürgerinnen und Bürger bekommt die Union sehr bald zu spüren. Keine Stunde ist nach der Verkündung des Ergebnisses vorbei, da haben sich vor der Parteizentrale der CDU schon hunderte zornige Menschen versammelt, um zu demonstrieren.

Diese Debatte muss ehrlich, schonungslos und respektvoll sein

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas

Immer wieder hatten SPD und Grüne Merz vor der gemeinsamen Mehrheit mit der AfD gewarnt und ihn aufgefordert, seine Anträge zurückzuziehen. Auch noch in der Bundestagssitzung, die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas am Mittag mit einer dringenden Mahnung eröffnet. „Diese Debatte muss ehrlich, schonungslos und respektvoll sein“, fordert Bas, ehe Bundeskanzler Olaf Scholz mit seiner Regierungserklärung beginnen darf.

Lange hält sich Scholz nicht an den Rat seiner Parteifreundin. „Das Recht auf Asyl ist fester Bestandteil unserer Rechts- und Werteordnung, und daran dürfen wir nicht rütteln“, stellt er zu Beginn fest und spricht dann von Vollzugsdefiziten, die Anschläge ermöglicht hätten.

Dann schaltet er auf Attacke. Scholz kritisiert Merz dafür, dass er mit dem Migrationsantrag „all in“ gehen wollte. „Politik in unserem Land ist kein Pokerspiel“, ruft Scholz. Ein Kanzler dürfe „kein Zocker“ sein. Er betont, es gehe nicht nur um einen Antrag: „Es darf keine Mehrheit für Union und AfD geben. Sonst droht uns eine schwarz-blaue Regierung in Deutschland.“

348
Abgeordnete stimmten mit Ja, 345 mit Nein, 10 Enthaltungen

Fast schon flehentlich appelliert auch Vizekanzler Robert Habeck in Richtung Merz: „Stimmen Sie nicht mit denen ab“, sagt der Grünen-Politiker und spricht von einem „Schicksalstag“.

Doch Merz bleibt bei seiner Entscheidung, begründet sein Vorgehen mit einer Gewissensentscheidung. „Was muss eigentlich in Deutschland noch passieren?“, fragt er. „Wie viele Menschen müssen noch ermordet werden?“

Er fürchte, dass die AfD noch stärker werde, wenn die demokratischen Parteien nicht endlich eine neue Asylpolitik durchsetzen würden. „Eine richtige Entscheidung wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen“, wiederholt Merz sein Credo der vergangenen Tage: „Sie bleibt richtig.“

Alice Weidel während der Debatte im Bundestag.

© imago/Future Image/IMAGO/Frederic Kern

Schließlich tritt AfD-Chefin Alice Weidel ans Rednerpult. Es wird leise im Plenum, auch weil die vielen Zwischenrufe aus den Reihen ihrer Fraktion verstummen. „Die sogenannte Brandmauer ist nichts anderes als eine antidemokratische Kartellabsprache, um den Wählerwillen auszuhebeln“, sagt Weidel.

Wie auch immer man dazu steht, ob Friedrich Merz die Brandmauer zum Einsturz gebracht hat oder nicht: In ihrer bisherigen Form steht sie nach diesem Abend nicht mehr. Als das Abstimmungsergebnis verkündet und die Sitzung unterbrochen ist, treffen sich SPD und Grüne zu Fraktionssitzungen.

Der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich tritt danach vor die Presse, mit allen SPD-Abgeordneten hinter sich versammelt. Die Genossinnen und Genossen wollen maximale Geschlossenheit auch optisch demonstrieren.

Dieser Tag werde in die Geschichte des Landes eingehen, sagt Mützenich. Bald würden die Wählerinnen und Wähler entscheiden, ob „die Rutschbahn“ weitergehe.

Abrechnung mit Merz

Minuten nach der Sitzungsunterbrechung kommen die Grünen in kleinen Grüppchen in ihren Fraktionssaal. Schockiert blicken sie drein, einige haben Tränen in den Augen, Ex-Parteichefin Ricarda Lang umarmt eine Parteifreundin innig.

Das stößt mich ab.

Britta Haßelmann, Fraktionschefin der Grünen, über Merz’ Verhalten

Vor dem Saal rechnen die Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Haßelmann mit Merz ab. „Merz hat billigend in Kauf genommen, dass sich Mehrheiten jenseits der demokratischen Mitte bilden“, sagt Haßelmann.

Sie lässt für eine schwarz-grüne Koalition nach der Wahl noch eine kleine Tür offen. Demokratische Kräfte müssten bündnisfähig bleiben. Sie sagt über Merz’ Verhalten aber klar: „Das stößt mich ab.“

Der Abend kann für SPD, Grüne und Linke zum Wendepunkt des Wahlkampfs werden, wenn es – taktisch gesehen – gut für sie läuft. Doch wie das Unions-Manöver bei den Wählerinnen und Wählern tatsächlich ankommt, ob es Merz schadet oder nützt, wird sich erst erweisen.

Zumal es auch bei Union und FDP Abgeordnete gibt, die skeptisch sind. Bei der FDP haben sich zwei enthalten und acht keine Stimme abgegeben. Eine Unionsabgeordnete, Antje Tillmann, hat mit Nein gestimmt, acht weitere haben keine Stimme abgegeben.

Eine von ihnen ist Monika Grütters, langjährige Vertraute Angela Merkels und einst Kultur-Staatsministerin. Sie ist am Abend, als die erste Aufregung vorbei ist, auf dem Weg in den Plenarsaal anzutreffen. Warum sie nicht mitgestimmt hat? „Das ist doch klar“, sagt Grütters. „Ich ertrage diese Nähe zur AfD nicht. Für mich ist eine rote Linie überschritten.“

Auch in der AfD will man herausstellen, dass der heutige Tag Grundsätzliches geändert habe. Alice Weidel zeigt sich überzeugt, dass die Entscheidung auf das eigene Konto einzahlen werde, nicht auf das der Union. „Wir sehen, dass bürgerliche Mehrheiten da sind und vernünftige Anträge beschlossen werden können“, sagt sie in die Kameras.

Die grüne Fraktionschefin Haßelmann spricht noch eine Prophezeiung aus: „Von heute an wird Friedrich Merz zum Getriebenen der AfD.“

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