zum Hauptinhalt
Kerzen leuchten am Holodomor-Denkmal in Kiew.

© Foto: Reuters/Valentyn Ogirenko

Stalins Genozid in der Ukraine: „Wahrheit, die man jahrzehntelang zu vertuschen versuchte“

Der Bundestag stimmt darüber ab, ob die Hungersnot in der Ukraine – der Holodomor – als Völkermord anerkannt werden soll. Viele Ukrainer sehen Parallelen zu heute.

| Update:

Für die allermeisten Ukrainer:innen steht fest: Die Hungersnot Holodomor von 1932 und 1933 war ein Genozid am ukrainischen Volk. 93 Prozent der befragten Erwachsenen in der Ukraine teilten jüngst diese Ansicht in einer Umfrage; nur drei Prozent widersprachen.

Pünktlich zum 90. Gedenktag der künstlich verursachten Hungersnot will sich auch der Deutsche Bundestag positionieren: An diesem Mittwoch stimmt das Parlament über einen gemeinsamen Antrag der Ampelfraktionen und der Unionsfraktion zur Anerkennung des Holodomor als Völkermord ab.

Im Fall dieses „politischen Verbrechens“, so heißt es in dem Resolutionsentwurf, hätte die sowjetische Führung zwei Ziele verfolgt: Die Unterdrückung der Bäuerinnen und Bauern sowie die Unterdrückung der ukrainischen Lebensweise, Sprache und Kultur.

Da die gesamte Ukraine unter dem Hunger und der Repression gelitten habe, liege eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe. Mit einer Annahme der Resolution würde Deutschland sich rund 20 Staaten anschließen, die den Holodomor bereits als Genozid einstufen, so etwa Tschechien, Polen, Australien und Kanada.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die geplante Einordnung als Völkermord begrüßt. Für die gemeinsame Resolution sei er „sehr, sehr dankbar“, sagte Steinmeier am Montag der Deutschen Welle.

Auch der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksij Makejew, hat die Resolution begrüßt. „Es geht um die Anerkennung der Wahrheit. Der Wahrheit, die man jahrzehntelang zu vertuschen versuchte. Und der Wahrheit, die nie verjähren kann“, sagte Makejew dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.


Was genau war der Holodomor?

Der Holodomor gilt als größtes einzelnes sowjetisches Verbrechen. Stalin ordnete zwar nicht per Dekret an, die Ukrainerinnen und Ukrainer verhungern zu lassen. Aber er erließ eine lange Kette von Dekreten, in deren Folge die Lebensmittelversorgung in der Ukraine zusammenbrach. So befahl Stalin die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft und forderte von den Bauern überzogene und unrealistische Abgabequoten für Getreide.

Gleichzeitig exportierte die Sowjetunion trotz der Hungersnot Weizen ins westliche Ausland. Stalin ließ in den ukrainischen Dörfern das Vieh, Getreide und Saatgut beschlagnahmen. Hungergebiete wurden abgeriegelt. Je nach Region verhungerten zwischen zehn und 60 Prozent der Bevölkerung.

Historiker schätzen, dass etwa vier Millionen Menschen in der Ukraine dem Holodomor zum Opfer fielen. Etwa weitere drei Millionen starben in der Wolga-Region und anderen Regionen Russlands, in denen Ukrainer:innen lebten. Die meisten Todesopfer forderte der Holodomor in den Regionen Charkiw, Kiew, Sumy, Tscherkassy, Odessa, Dnepropetrowsk, Zhitomir und Vinnitsa.

Nahezu bis zum Ende der Sowjetunion war die verheerende Hungersnot ein tabuisiertes Thema, über das nicht gesprochen werden durfte. Erst im Jahr 1989 erinnerte in Charkiw ein Holzkreuz an die Opfer.


Was macht den Holodomor zum Genozid?

Nach Ansicht des Historikers und ehemaligen Direktors des ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken, Wolodymyr Wyatrowytsch, war der Holodomor ein Versuch der sowjetischen Behörden, die Ukrainer als „nationale Gemeinschaft mit einer besonderen Kultur und Lebensweise zu vernichten“. Diejenigen, die überlebten, „mussten nach und nach aufhören, Ukrainer zu sein. Daher handelt es sich um Völkermord“, erklärt Wolodymyr Wyatrowytsch.

Ein hungerndes Mädchen symbolisiert als Mahnmal in Kiew den Holodomor.
Ein hungerndes Mädchen symbolisiert als Mahnmal in Kiew den Holodomor.

© Foto: Imago/Ukraine Presidency

Das Holodomor-Forschungsinstitut benennt die Hungersnot als „Höhepunkt einer präventiven Strafaktion gegen die Ukrainer:innen“. Denn die ukrainische Bevölkerung war aufgrund ihrer Ablehnung des Kommunismus, ihres Widerstands gegen das Sowjet-Regime und ihres Kampfes für die ukrainische Eigenstaatlichkeit in Moskau in Ungnade gefallen.

Der Erfinder des Begriffs „Genozid“, der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, war bereits 1953 überzeugt, dass der Holodomor ein „klassisches Beispiel eines sowjetischen Genozids“ war. Er sah den Holodomor als Höhepunkt einer sowjetischen genozidalen Politik gegenüber der Ukraine, die in der Tradition des Zarenreichs stand.

Die Selenskyjs bei einer Gedenkfeier zum Jahrestag des Holodomor in Kyiv.
Die Selenskyjs bei einer Gedenkfeier zum Jahrestag des Holodomor in Kyiv.

© Foto: AFP/Ukrainian Presidential Press Service

Lemkin sagte bei einer Rede in New York anlässlich des 20. Jahrestages der Hungersnot: Sie sei „das längste und umfassendste Experiment der Russifizierung – die Ausrottung der ukrainischen Nation. Solange die Ukraine ihre nationale Einheit bewahrt, ist sie eine Bedrohung für den Sowjetismus.“

Von 1945 bis 1946 war Lemkin Berater des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten bei den Nürnberger Prozessen. Die Nürnberger Prozesse ebneten den Weg für die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, die am 9. Dezember 1948 von der UN-Generalversammlung in Paris einstimmig angenommen wurde.

Lemkin setzte sich bei den Vereinten Nationen aktiv für die Idee einer eigenen Konvention zum Verbot von Völkermord ein. Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes trat am 12. Januar 1951 in Kraft.


Wie hängt das mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zusammen?

Die Anerkennung des Holodomor als Genozid durch den Bundestag hat im Kontext des aktuellen Krieges Symbolcharakter. So warf Bundeskanzler Olaf Scholz der Regierung in Moskau jüngst eine erneute Politik des Hungers vor. Russland habe mit Angriffen auf die ukrainische Landwirtschaft und der Blockade ukrainischer Häfen am Schwarzen Meer die globale Lebensmittelkrise verschärft, erklärte Scholz. Davon seien Millionen Menschen von Afrika bis Afghanistan betroffen.

Deutschland begrüße das unter Federführung der UN verlängerte Abkommen zu ukrainischen Getreideexporten und unterstütze die Initiative „Grain from Ukraine“.

Eine Strategie der „Ausrottung durch Hunger und Kälte“ wird Stalin in der Ukraine bis heute vorgeworfen. Und viele Ukrainer fühlen sich aktuell an die Ereignisse von damals erinnert.

Die Ukrainer hätten „Schreckliches durchgemacht“, erklärte etwa der ukrainische Präsident Selenskyj in einer Videoansprache mit Blick auf die aktuellen Strom- und Wasserausfälle im Land: „Einstmals wollten sie uns durch Hunger zerstören, nun – mit Dunkelheit und Kälte.“ (mit KNA)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false