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Bundespräsidentenwahl: Tag der langen Messer

Sie fassen es kaum. Dass es einen Denkzettel geben könnte, damit mussten sie bei Schwarz-Gelb rechnen. Aber dass Christian Wulff bei der Wahl zum Bundespräsidenten erst im dritten Anlauf durchkommt, ist für Angela Merkel ein Misstrauensvotum.

Von Robert Birnbaum

Der Kandidat hat die ganze Zeit über schon diese leicht angespannten Mundwinkel, aber jetzt kommt ein Zucken dazu. Rechts neben Christian Wulff starrt Horst Seehofer mit rotem Kopf ins Nirgendwo. Links zieht Angela Merkel die Schultern hoch, eine resigniert gefasste Geste. Bundestagspräsident Norbert Lammert wird jeden Moment das Ergebnis des ersten Wahlgangs zur Wahl des Bundespräsidenten verkünden. Die drei in der ersten Reichstagsreihe kennen es schon. 126 Stimmen für die Linken-Kandidatin Luc Jochimsen, zwei mehr als erwartet. 499 Stimmen für Joachim Gauck, gut 20 mehr als erwartet. Nur 600 Stimmen für Christian Wulff. Etwa 50 Abgeordnete von CDU, CSU und FDP haben ihrem Kandidaten die Stimme verweigert. Es ist ein brutaler Schlag.

Sie können es kaum fassen. Mit vielem haben die Führenden der Koalition gerechnet – dass knapp ein zweiter Wahlgang nötig wird, vielleicht sogar ein dritter. Wulff hat bei seiner letzten Sommerreise als niedersächsischer Ministerpräsident selbst mit dem größten anzunehmenden Unfall kokettiert: „Beim Tag der Niedersachsen hab ich auf die Torwand geschossen. Der erste war knapp daneben, der zweite auch, der dritte war dann drin.“ Wobei, es war nicht nur Koketterie. Wulff ist vorsichtig. Er hat ja zum Beispiel auch erst einen Tag ins Land gehen lassen nach Horst Köhlers überraschendem Rückzug, bevor er seinen Anspruch hinter der Kulisse anmeldete, vor der Ursula von der Leyen noch die Hauptrolle zu spielen glaubte.

Doch je näher der Wahltag rückte, um so solider wurde das Fundament an Zuversicht in der Koalition. Am Abend vor der Bundesversammlung treffen sich die Wahlleute der Union im Hotel Maritim. Merkel hält eine sehr kurze Ansprache. „Ich stelle es mir wunderschön vor, wenn ein Kinderlachen durch Schloss Bellevue geht“, sagt sie. Wulff lächelt, seine Frau Bettina lächelt. Die Spielecke im Schloss scheint eine Frage weniger Stunden. Noch am Mittwochfrüh wird sich der Bayer Markus Söder sicher zeigen, dass dies ein Neustart für die Koalition werde, zumindest „ein emotionaler“.

Und der Tag fängt ja auch nicht schlecht an. Na gut, Angela Merkels Limousine wird an der Absperrung vor dem Reichstag erst mal von der Polizei gestoppt, Ausweis bitte! „Das ist die Kanzlerin!“, raunzen zwei Personenschützer die Uniformierten an. Könnten sie doch nicht wissen, murren die Uniformierten zurück und geben den Weg frei. Aber sonst? Die Wahlleute der Koalition sind vollzählig. Aus der FDP melden sie drei entschlossene Abweichler und einen Unentschlossenen. In der Union ist von Abweichlern nichts bekannt. Nur eine kleine Ungewissheit bleibt. Sie hat einen Namen: Joachim Gauck.

Der Mann, der die Koalition an diesem Tag das Fürchten lehren wird, nimmt kurz vor Mittag auf der Tribüne Platz. Gauck ist anders als Wulff nicht Mitglied der Bundesversammlung, darum darf er zunächst nicht in den Plenarsaal. Der Ex-Bürgerrechtler macht sich daraus erkennbar nichts. Freundlich grüßt er alle, die er kennt, stellt Antje Vollmer und Burkhard Hirsch seine Familie vor. Irgendwann steht er auf, um auf der Nachbartribüne dem Altbundespräsidenten Roman Herzog die Hand zu drücken. Auf dem Weg trifft er einen alten Bekannten. Rudolf Seiters hat als Helmut Kohls Kanzleramtsminister die deutsche Einheit mit organisiert, jetzt ist er Präsident des Roten Kreuzes. Wie die beiden da nebeneinander stehen, ein vertrautes Gespräch, das ist ein sinnfälliges Bild. Gauck, der Ex-Bürgerrechtler, der Ex-Stasiaktenverwalter, der Bürger par excellence könnte ja gut auch Angela Merkels Kandidat sein.

Genau deshalb ist er der Kandidat Sigmar Gabriels und Jürgen Trittins geworden. Der Rote und der Grüne haben ins Herz der bürgerlichen Konkurrenz gezielt. Der SPD-Chef hat den Schmerz noch vermehrt durch seine böse Invektive, dass Gauck ein Leben hinter sich habe und Wulff nur eine Karriere. Bürgerkönig gegen blassen Polit-Konsens – das ist in Zeiten, in denen Politik im Allgemeinen und die Politik dieser Koalition im Besonderen auf einem Tiefpunkt ihres Ansehens stehen, eine nur allzu plausible Frontstellung. Merkel hat in der Fraktionssitzung am Dienstagabend versucht, diese Stimmung zu Wulffs Gunsten zu wenden: Das gehe nicht an, dass eine politische Karriere Politiker für ein politisches Amt disqualifiziere. Es war ein Appell an die 643 Politiker vor ihr.

Punkt zwölf betritt Bundestagspräsident Norbert Lammert den Plenarsaal und bittet, Platz zu nehmen. Der Bundestagspräsident leitet die Versammlung und darf als Einziger eine kleine Rede halten. Er erinnert an die Ursache dieser zweiten Bundesversammlung in Jahresfrist. Man müsse es respektieren, dass Horst Köhler sein Amt niederlegt habe, inklusive der Gründe, „auch wenn viele von uns sie noch immer nicht wirklich verstehen“. Dann bürstet Lammert noch so korrekt wie kurz ein paar Geschäftsordnungsanträge der drei NPD-Vertreter ab. Dann fängt das Abstimmen an.

Es dauert, bis 1244 Namen verlesen sind. Es dauert noch länger, bis alle ihre Stimmkarte eingeworfen haben. Bei Merkel klicken die Kameras, bei Wulff noch mehr. Der Kandidat lässt den Umschlag lange über der transparenten Urne schweben, noch ein Foto, bitteschön. Zwischenzeitlich hat sich eine kleine Prozession von Hinterbänklern am Kandidaten vorbei bewegt und sich fürs Familienalbum neben ihm ablichten lassen: ich und der Präsident.

Aber dann diese 600 Stimmen. Es ist ein ein Misstrauensvotum. Oben auf der Fraktionsebene decken verwirrte Servierhilfen das Buffet eilig wieder zu. Unionsfraktionschef Volker Kauder stakst mit ins Gesicht gefrästem Lächeln in den Fraktionssaal der Union. Andere schäumen offen. „Ich finde, Leute, die so etwas machen, sind krank im Kopf“, wütet der Nordrhein-Westfale Karl-Josef Laumann. Versteinerte Gesichter überall. Dass welche ihr Mütchen kühlen wollten an der Kanzlerin oder an Wulff, das sei ja vorstellbar, sagt Erwin Huber. Aber „die ihr Mütchen kühlen wollen, die enthalten sich“. Die wählen nicht den anderen. In der Sitzung versichert Merkel, dass sie niemanden unter Druck setzen werde, und Seehofer wiederholt etwa ein dutzendmal, dass es bitte keine Schuldzuweisungen geben dürfe. Es sind defensive, diffuse Auftritte, erschrockene vielleicht auch. Die Zahlen lassen keinen anderen Schluss zu: Die Abweichler sitzen hier im Saal, es ist fast ein Zehntel der Truppe. „Familie“ wird Kauder die Union später beschwörend nennen. Aber in dieser Familie nistet unerkannt Verrat. Es gab keine Vorwarnung, keine. Und: „Es gibt keine Gruppe, die wir benennen könnten“, sagt einer aus der engsten CDU-Führung. „Das ist das wirklich Beunruhigende: eine Addition von Unmut.“

Bei der FDP ist die Fraktionssitzung in Minuten vorbei. Ob jemand Anlass zur Aussprache sehe, fragt Guido Westerwelle. Keiner. Das war’s. Sie waren es nicht. Vor dem Sitzungssaal der SPD-Fraktion aber grinst Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse breit: „Das ist ’ne Sensation, das hätt’ ich nie geglaubt!“ Sigmar Gabriel schiebt sich durchs Gedränge. Vielleicht ist die Sensation wirklich möglich? Jetzt bloß nichts sagen, was die Union zusammenschweißt. „Das ist keine Niederlage für Schwarz-Gelb“, säuselt der SPD-Chef. Im Plenarsaal sind Trittin und Renate Künast zu Gregor Gysi geschlendert. Die Grünen sondieren, ob die Linke nicht doch ihre Abneigung gegen Merkel vor die Aversion gegen Gauck stellen könnten?

Zweiter Wahlgang. Wieder gut zwei Stunden vom ersten Namen bis zur Verkündung. 615 Stimmen diesmal für Wulff. Es reicht wieder nicht. Aber es ist besser geworden. Wieder trifft sich die Unionsfraktion, die Delegierten begrüßen Merkel, Seehofer und Wulff mit rhythmisch-trotzigem Applaus. Aber die Rede des Tages hält Roland Koch. Ja, sagt der Hesse, es gebe ein „Recht auf abweichende Meinung“. Doch jeder solle die Folgen überlegen, wenn er auf seinen Enttäuschungen oder Verletzungen beharre. Im Herbst habe diese Regierung einen gigantischen Vertrauensvorschuss erhalten – „es wäre ein verheerendes Signal, das jetzt kaputt zu machen“. Koch hat nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren. Um so lauter, länger, ernstgemeinter ist der Applaus. Merkel lächelt beim Rausgehen sogar wieder etwas, Wulff auch. „Bundespräsident wird man nicht im Schonwaschgang“, sagt Bayerns Finanzminister Georg Fahrenschon.

Drüben im Zimmer von SPD-Fraktionschef Frank Walter Steinmeier sitzen derweil die Führungen von SPD, Grünen und Linken beisammen. Rot-Grün solle Gauck zurückziehen und einen neuen Kandidaten nominieren, fordern die Linken. SPD und Grüne lehnen ab. Sie finden, die Linke solle ihre Kandidatin zurückziehen. Im dritten Wahlgang tritt Jochimsen dann wirklich nicht mehr an. Aber der Runde fehlt der letzte Kampfgeist. Es würde höchstens noch zum Patt reichen. Das lohnt keinen Abstieg von Prinzipiengäulen. Draußen verkündet Oskar Lafontaine, die beiden anderen Parteien hätten halt früher mit einem allseits akzeptablen Kandidaten kommen müssen.

Um 21 Uhr12 bittet Norbert Lammert zum letzten Mal darum, Platz zu nehmen. „Ich gebe Ihnen das Ergebnis des dritten Wahlgangs zum Bundespräsidenten bekannt.“ 494 Stimmen für Joachim Gauck. Der Mann, der Präsident hätte werden können, ringt unter dem donnernden Applaus der SPD und der Grünen minutenlang um Fassung, halb lächelnd, halb den Tränen nahe. „Auf Christian Wulff entfallen 625 Stimmen.“ Es ist die absolute Mehrheit. Jetzt endlich. Die Koalition jubelt sich selber Hoffnung zu. Gauck gratuliert als Erster. Am Tag vor der Wahl hat er einen freundlichen, versöhnlichen Satz gesagt: „Wir werden morgen alle gewonnen haben.“ Aber das stimmt so nicht. Christian Wulff hat gesiegt. Aber Angela Merkel hat verloren.

Mitarbeit Cordula Eubel, Stephan Haselberger, Hans Monath, Antje Sirleschtov, Rainer Woratschka

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