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Hatte einen Anstieg der Zahlen häuslicher Gewalt sowie Gewalt gegen Frauen zu verkünden: Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU).

© REUTERS/ANNEGRET HILSE

„Wir haben noch viele Lücken im System“: Gewalt gegen Frauen wächst – besseres Hilfesystem gefordert

Auch im vergangenen Jahr gab es erneut mehr Fälle häuslicher Gewalt sowie Gewalt gegen Frauen. Die Politik handelt, aus Sicht von Fachleuten aber nicht entschieden genug.

Stand:

Männer in Deutschland verletzen und töten Frauen. Männer in Deutschland belästigen und vergewaltigen Frauen. Männer in Deutschland drohen und manipulieren Frauen. Männer in Deutschland verfolgen Frauen im Netz und fügen ihre Bilder in Porno-Videos ein. Gewalt gegen Frauen nimmt zu – ob körperliche, psychische, sexuelle oder digitale.

Sie richtet sich gegen jüngere wie ältere Frauen, Ehefrauen, Partnerinnen, Ex-Partnerinnen, trans, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen. Und sie geht vor allem von Männern aus. All das geht aus einem aktuellen Lagebild des Bundeskriminalamts (BKA) hervor, das die Bundesregierung und das BKA am Freitag in Berlin vorgestellt haben.

„Die Politik tut noch nicht genug zum Schutz von Frauen“, räumte Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) in der Bundespressekonferenz ein. „Es ist alles immer noch nicht genug, solange auch nur eine Frau, auch nur ein Kind Opfer von Gewalt oder sexualisierter Gewalt wird“, sagte Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU).

Die vom BKA vorgelegten Zahlen für das Jahr 2024 zeigen, wie weit man von diesem Anspruch noch entfernt ist.

  • 53.451 Frauen wurden Opfer von Sexualstraftaten (plus 2,1 Prozent), fast die Hälfte aller Opfer war unter 18 Jahren alt
  • 187.128 Frauen wurden Opfer häuslicher Gewalt (plus 3,5 Prozent)
  • 18.224 Frauen wurden Opfer von digitaler Gewalt (plus 6 Prozent)
  • 593 Frauen wurden Opfer von Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung (plus 0,3 Prozent)
  • 308 Frauen wurden gewaltsam getötet (32 weniger als im Vorjahr); über zwei Drittel von ihrem (Ex-)Partner oder einem anderen Familienmitglied sowie Freund.

Die Anstiege könnten auf mehr Taten oder mehr angezeigte Taten zurückgehen. Die Kriminalstatistik zeigt nur Fälle, die überhaupt bekannt werden. Männliche Täterschaft und weibliche Betroffenheit überwiegen dabei. Allein bei häuslicher Gewalt waren sieben von zehn Opfern Frauen oder Mädchen, bei über drei Viertel männlichen Tatverdächtigen.

Was das BKA in seinen Statistiken sieht, erleben Mitarbeitende in Beratungs- und Notrufstellen jeden Tag. „Das Problem ist noch viel größer“, sagte Claudia Igney dem Tagesspiegel. Sie ist Referentin im Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (BFF).

„95 Prozent der Partnerschaftsgewalt gelangt nicht zur Kenntnis der Polizei und findet folglich keinen Eingang in das Lagebild.“ Auch BKA-Präsident Holger Münch stellte klar, die Zahlen seien nur ein Teilausschnitt der Realität. Eine Dunkelfeld-Studie wird derzeit ausgewertet und soll bald vorgestellt werden.

Tausende Frauenhausplätze fehlen

Um dem wachsenden Problem zu begegnen, ist die Regierung schon tätig geworden, bevor sie im Amt war. Als eines der wenigen Gesetze nach dem Bruch der Ampel haben Union, SPD und Grüne im Januar das Gewalthilfegesetz beschlossen. Es verpflichtet die Bundesländer dazu, künftig ausreichend Plätze in Frauenhäusern und Beratungsangebote vorzuhalten.

Der Bund gibt dafür 2,6 Milliarden Euro aus. Weitere 150 Millionen Euro soll es für die Sanierung und den Neubau von Frauenhäusern geben. Dem Verein Frauenhauskoordninierung zufolge fehlen in Deutschland aktuell rund 14.000 Frauenhausplätze.

Dazu hat auch die schwarz-rote Koalition bereits Maßnahmen verabschiedet oder zumindest auf den Weg gebracht. So hat der Bundestag kürzlich ein Gesetz beschlossen, das den Handel und Vertrieb von K.-o.-Tropfen stark einschränkt. Künftig sollen auch noch die Strafen verschärft werden, vor allem für Fälle, bei denen diese für Vergewaltigungen eingesetzt werden.

Außerdem wurde am Mittwoch im Kabinett ein Gesetzentwurf beschlossen, der es Gerichten ermöglicht, das Tragen einer elektronischen Fußfessel für Ex-Partner anzuordnen. Auch dies schaffe neue Schutzräume, sagte Dobrindt. Zudem wolle man das Thema auch in den Schulen stärker behandeln.

Forderungen nach mehr Maßnahmen

Aus Sicht von Fachleuten reicht das nicht. Der Deutsche Frauenrat sprach von einer „Quittung für jahrzehntelanges Politikversagen“. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes forderte die Politik auf, sich stärker mit den gesellschaftlichen Ursachen von Gewalt gegen Frauen zu beschäftigen.

„Es gibt gute Ansätze“, sagte Claudia Igney auf die Frage, wie sie die Arbeit und Pläne der Regierung bewerte. „Aber die Zahlen steigen und gleichzeitig sind vielerorts Fachberatungsstellen von finanziellen Kürzungen bedroht.“ Maßnahmen wie die elektronische Fußfessel hält sie für richtig. „Aber die kann nur in wenigen Hochrisikofällen zum Einsatz kommen.“ Andere kritisieren, dass sie zu spät greift, also erst nach der Gewalttat.

„Wir haben noch viele Lücken im System“, sagt Igney. Etwa müsse dringend die Reform des Kindschaftsrechts umgesetzt werden. Es soll von häuslicher Gewalt betroffene Mütter in Sorge- und Umgangsrechtsverfahren besser schützen.

Zudem gelte der im Rahmen des Gewalthilfegesetzes geschaffene Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung erst ab 2032. „Das Hilfesystem muss aber schon jetzt ausgebaut und sicher finanziert werden.“ Zudem müsse ein Gesamtkonzept aus Prävention, Schutz und Beratung umgesetzt werden. „Das muss höchste Priorität haben, nicht nur an einem Tag im November!“

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