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Mädchen mit Maske an einem Zaun

© picture alliance / Westend61 / Ezequiel Giménez

Essstörungen, Depressionssymptome, Fettleibigkeit: Regierungsexperten legen verheerende Folgen der Pandemie für Kinder offen

Eine Expertengruppe zweier Bundesministerien hat analysiert, welchen Belastungen Kinder während der Pandemie ausgesetzt waren. Und was jetzt für sie getan werden muss.

| Update:

Es brauche „ein ganzes Land“, heißt es in dem Schriftstück, doch steht das ganze Land bereit? Eine interministerielle Arbeitsgruppe von Familien- und Gesundheitsministerium, besetzt mit 25 Expertinnen und Experten, hat einen Bericht zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche vorgelegt.

Er zeichnet ein Bild der entstandenen Belastungen und enthält Empfehlungen, was dagegen zu tun sei. Der Bericht wurde am Mittwoch vom Kabinett beschlossen und anschließend von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) und Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vorgestellt. Lauterbach sprach von Schäden, die nicht bleiben müssen, aber bleiben können. „Wir müssen jetzt sehr viel machen“, sagte er.

Besonders hart traf es diejenigen, deren Aufwachsen schon vorher von Belastungen geprägt war.

Die Expertinnen und Experten in ihrem Bericht.

Ministerin Paus zitierte eine Zahl aus einer anderen Untersuchung, derzufolge 73 Prozent der Kinder und Jugendlichen sich von der Pandemie bis heute psychisch belastet fühlen. In der Präambel des Berichts heißt es: „Besonders hart traf es diejenigen, deren Aufwachsen schon vorher von Belastungen geprägt war.“ (Konkrete Erkenntnisse: siehe unten).

Den Ergebnissen entsprechend war das Echo aus der Politik am Mittwoch. Vertreterinnen und Vertreter der Ampelparteien zeigten sich bestürzt. „Zu wenig im Blick war uns die seelische und physische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Gerade diejenigen, die nicht immer auf der Sonnenseite groß werden, haben besonders gelitten“, sagte Dagmar Schmidt, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion.

Von „dramatischen Auswirkungen“ der Pandemie sprach Johannes Wagner, Gesundheitspolitiker in der Grünen-Fraktion. Und die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Gyde Jensen forderte einen Mental-Health-Gipfel von Bund, Ländern und Kommunen.

Minister Lauterbach sagte am Mittwoch erneut, die Schulen so lange zu schließen, sei rückblickend ein Fehler gewesen. Auf Nachfrage stellte er aber klar, es sei auch der Fehler gemacht worden, die Schulen nicht pandemiesicher zu machen. „Nur unter bestimmten Voraussetzungen“ wie Wechselunterricht und qualitativ hochwertigem Digitalunterricht hätten sie damals früher wieder geöffnet werden können, sagte Lauterbach. „Kurz zuschließen und danach normal weiterlaufen lassen: Das wäre nicht gegangen.“

Kurz zuschließen und danach normal weiterlaufen lassen: Das wäre nicht gegangen.

Gesundheitsminister Lauterbach über Schulschließungen in der Pandemie

Besetzt war die Arbeitsgruppe mit 25 Expertinnen und Experten aus dem Feld der Kindergesundheit und -fürsorge. Darunter waren etwa Jörg Dötsch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Susanne Kuger vom Deutschen Jugendinstitut und Christiane Gotte als Vorsitzende des Bundeselternrats. Die Gruppe stützt sich für ihre Expertise auf verschiedene schon veröffentlichte Studien zum Thema Kinder und Corona.

Das Fazit der Arbeitsgruppe: Die vergangenen Jahre haben „aufgezeigt, dass viele Kinder und Jugendliche bereits vor der Pandemie bessere Unterstützungsangebote benötigten und dass die sozialen Systeme auch schon vor dem Ausbruch von Covid-19 teilweise kaum in der Lage waren, auf psychosoziale Beeinträchtigungen junger Menschen zeitnah zu reagieren.“

Viele Kinder und Jugendliche benötigten bereits vor der Pandemie bessere Unterstützungsangebote.

Die Expertinnen und Experten in ihrem Bericht.

Und so zeigt der Bericht, wo anzusetzen wäre, wenn die Gesellschaft das Wohlergehen der Heranwachsenden stärker priorisieren würde. Dargestellt wird erstens, wie die Arbeitsgruppe die Lage von Kindern und Jugendlichen bewertet, zweitens was aus Sicht der Ministerien in fünf Handlungsfeldern bereits passiert ist, und drittens, was die Expertinnen und Experten darüber hinaus für diese Handlungsfelder empfehlen.


1 So sehen die Expertinnen und Experten die Lage

Das gesamte öffentliche Leben kam „quasi zum Stillstand“, was für Familien „enormen Stress“ bedeutete. Der Bericht erinnert noch einmal an die Anfangszeit der Pandemie und daran, dass die Lasten ungleich verteilt waren: „Für sozial benachteiligte Familien in engen Wohnungen und mit knappen Ressourcen beziehungsweise bei bereits zuvor schwierigen Familienverhältnissen waren die Schwierigkeiten und existenziellen Nöte ungleich größer. Auch Familien mit Kindern mit Beeinträchtigungen und Behinderungen waren durch die Pandemie teils extrem herausgefordert.“

Schon in der Präambel des Berichts heißt es: „Die Pandemie ist wahrscheinlich an keinem Kind oder Jugendlichen spurlos vorüber gegangen. Besonders hart traf es aber diejenigen, deren Aufwachsen schon vorher von Belastungen geprägt war.“ Konkret genannt werden dann beispielsweise folgende Erkenntnisse:

  • „Kinder und Jugendliche wiesen während der Schulschließungen zu 75 Prozent häufiger Depressionssymptome auf als vor der Pandemie. Im Vergleich erhöhte sich die Häufigkeit für solche Depressionssymptome im Zeitraum ohne Schulschließungen nur um 27 Prozent.“
  • Der Anteil an Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren mit einer diagnostizierten Essstörung lag im Jahr 2021 um 54 Prozent höher als noch 2019.
  • Bei Depressionen und Angststörungen wird von einem Anstieg der Zahlen bei Mädchen, aber von einem Rückgang der Zahlen bei Jungen berichtet.
  • Bei Adipositas (Fettleibigkeit) sind die Zahlen bei beiden Geschlechtern gestiegen.
  • Viele Jugendliche und junge Erwachsene erlebten „teils erhebliche Brüche beziehungsweise Verzögerungen“ in ihrer Biografie, etwa weil sie ein geplantes Auslandsjahr nicht antreten oder nicht wie geplant aus dem Elternhaus ausziehen konnten.
  • „Teilweise erheblich gestiegene Förderbedarfe in den Bereichen Sprache, Motorik und sozial-emotionale Entwicklung“ wird für Kinder im Alter vor der Einschulung festgestellt. Soziale Benachteiligung in Form von geringem Zugang zu Bildung, Ausbildung und Einkommen ist ein Risikofaktor.

2 Auf diese Maßnahmen verweisen die Ministerien

Aufgeschlüsselt nach fünf Handlungsfeldern stellen das Familien- und Gesundheitsministerium im Bericht dar, was bereits getan oder geplant wird. Hier einige relevante Beispiele.

  • Frühe Hilfen: Das Netzwerk „Frühe Hilfen“ sorgt dafür, dass Familien mit besonderem Unterstützungsbedarf schon rund um Schwangerschaft und Geburt passgenaue Hilfsangebote bekommen und dann weiter begleitet werden. Die Zielgruppe: „Familien in psychosozialen Belastungslagen, Familien mit hohem Armutsrisiko, mit Migrations- oder Fluchtgeschichte, Eltern mit psychischen Erkrankungen, sowie Familien mit Mehrfach- und hohen Stressbelastungen“. Im Koalitionsvertrag wurde dafür eine Erhöhung der Finanzierung vereinbart. Mobile Angebote und digitale Zugänge sollen ausgebaut werden.
  • Kindertagesbetreuung: Verwiesen wird im Bericht auf das Kita-Qualitätsgesetz, das durch passgenaue finanzielle Unterstützung des Bundes für eine bessere frühkindliche Bildung sorgen soll, und auf den Ausbau der Kindertagesbetreuung, der weitergehen soll. Laut Koalitionsvertrag ist eine Gesamtstrategie zur Sicherung der Fachkräftebedarfe im Bereich der Kindertagesbetreuung geplant.
  • Schulen: Das Familienministerium nennt das Modellprogramm „Mental Health Coaches“ für Schulen, die etablierte „Nummer gegen Kummer“ und weitere Beratungsangebote sowie Bundesinvestitionsprogramme zum Ausbau des Ganztagsbetriebs.
  • Gesundheitswesen: Im Bericht steht, das deutsche Gesundheitswesen gelte als eines der besten der Welt, anerkannt werden aber die jüngsten „Versorgungsengpässe“ angesichts der starken Erkrankungswelle im laufenden Winter. Das Gesundheitsministerium verweist auf Änderungen bei der Vergütung und Personalplanung sowie bei Arzneimitteln, um die Versorgung von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen. Es gibt im Ministerium einen „„Runden Tisch Bewegung und Gesundheit“, Programme zur Suchtprävention bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, außerdem sei der Öffentliche Gesundheitsdienst mit zusätzlicher Finanzierung gestärkt worden.
  • Jugend- und Familienhilfe: Das Familienministerium verweist auf ein Programm für Elternbegleitung, digitale Hilfsangebote und den 2021 eingeführten Rechtsanspruch für Familien in Krisensituationen auf Alltagsunterstützung.

3 Das fordert die Arbeitsgruppe

Auch die Empfehlungen der Arbeitsgruppe gliedern sich in die fünf Handlungsfelder. Angesprochen fühlen dürfen sich laut Bericht „der Bund, die Länder, die Kommunen, das Gesundheitswesen und die Wissenschaft: Alle sind aufgefordert.“

Frühe Hilfen

  • Die Frühen Hilfen sollte nach Ansicht der Arbeitsgruppe Vorbild sein, „um auch in anderen Handlungsfeldern eine engere Kooperation und damit Bündelung von Kräften zum Wohl von Kindern und Jugendlichen zu erreichen“. Gefordert wird außerdem eine „langfristige Dynamisierung und Erhöhung der Mittel für die Frühen Hilfen“.

Kindertagesbetreuung

  • Die Expertinnen und Experten stellen fest, dass es für Eltern „oft eine Herausforderung“ ist, „den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab dem ersten Lebensjahr für das eigene Kind praktisch durchzusetzen. Gut informierte und vernetzte Eltern sind hier im Vorteil, bei sozial benachteiligten Familien ist messbar, dass sie ihren Anspruch seltener wahrnehmen oder durchsetzen.“ Die Arbeitsgruppe fordert, dem entgegenzuwirken, zum Beispiel durch aktive Unterstützung bei der Suche nach einem Kitaplatz. Kita-Fachkräfte sollten stärker als bisher im Bereich Gesundheitsprävention geschult werden.
  • Im Bericht heißt es, zahnmedizinische Gruppenprophylaxe habe vor der Pandemie circa 80 Prozent der Kinder erreicht, im Schuljahr 2020/21 aber nur noch 23 Prozent in den Kitas und 16 Prozent in den Grundschule. Eine Rückkehr zum alten Niveau sei erforderlich.
  • Psychische Gesundheit werde in Kitas deutlich zu selten thematisiert. Dies müsse sich ändern, vor allem durch entsprechende Aus- und Fortbildung der Fachkräfte.

Schulen

  • Gesundheit und Gesundheitskompetenz sollten im Schulunterricht stärker thematisiert werden.
  • Gefordert wird, dass therapeutische Hilfsangebote für junge Menschen in Krisensituationen in ausreichendem Maß vorhanden sind.

Gesundheitswesen

  • Niedrigschwellige Beratungs- und Vermittlungsangebote in besonders benachteiligten Regionen sollten ausgebaut werden.
  • Länder und öffentlicher Gesundheitsdienst sollten bei Eltern und Jugendlichen verstärkt für die Jugendgesundheitsuntersuchung werben und in Einladungs-, Erinnerungs- und Rückmeldesysteme intensivieren. Dabei handelt es sich um eine Fortsetzung der etablierten Vorsorgeuntersuchungen für Kinder im Jugendalter.

Jugend-und Familienhilfe

  • Die Arbeitsgruppe fordert eine „breit angelegte Initiative zur Bindung von Fachkräften an das System Jugendhilfe“.
  • Längerfristige Jobperspektiven seien für diese Initiative eine entscheidende Stellschraube.

Abschließend fordern die Expertinnen und Experten, es solle in Zukunft ein dauerhaftes Gremium von Fachleuten für die psychische und körperliche Gesundheit von Heranwachsenden geben, für ein permanentes Monitoring. „Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf“, wird ein Sprichwort zitiert.

Heutzutage brauche es „ein ganzes Land“ und „eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen im Schulterschluss mit dem Gesundheitswesen und der Wissenschaft“, befindet die Arbeitsgruppe.

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