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Nachwende-Debatte: Der verhinderte Schlussstrich

Wie ist das Land auf den Brandenburger Weg geraten und was folgt daraus?

Stand:

Knapp zwei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR setzte der Brandenburger Landtag auf Antrag der drei Oppositionsfraktionen - CDU, Bündnisgrüne, FDP – eine Enquete-Kommission ein, die untersuchen soll, wie im Land Brandenburg auf verschiedenen Ebenen die Aufarbeitung der SED-Diktatur erfolgte. Das aus Abgeordneten und Wissenschaftlern bestehende Gremium soll auf Veranlassung der Regierungsfraktionen ebenfalls Verlauf und Ergebnisse des Transformationsprozesses untersuchen.

Bereits beim Vorliegen der ersten Gutachten, in denen Defizite bei der Aufarbeitung der sozialistischen Diktatur deutlich benannt werden, setzte ein heftiger, bis zum heutigen Tag andauernder, ja sogar noch eskalierender Streit ein. Vertreter der Regierungsfraktionen sprachen von Hetze gegen den ehemaligen Ministerpräsidenten Stolpe und die von ihm geführten Landesregierungen und stuften die kritischen Gutachten als unwissenschaftlich ein. In ihnen wird jedoch nur das benannt, was mit der Materie Vertraute ohnehin wissen: Brandenburg tat sich mit einer schonungslosen Aufklärung über die sozialistische Diktatur – sowohl bei den Überprüfungen auf Stasi-Tätigkeit als auch bei der Vermittlung eines DDR-Bildes, das keinen Zweifel am diktatorischen Charakter des realen Sozialismus lässt - noch schwerer als die anderen neuen Länder. Die Entlassungsquote überführter ehemaliger Inoffizieller Mitarbeiter des MfS (IM) fiel in Brandenburg niedriger als in anderen neuen Ländern aus und Brandenburger Schüler wussten bei einer vergleichenden Befragung deutlich weniger über die dunklen Seiten des SED-Staates als Schüler anderer Bundesländer.

Alle heute im Brandenburger Landtag vertretenen Parteien waren mehr oder weniger beteiligt am Beschweigen der diktatorischen Vergangenheit. Jetzt aber bemühen sich zumindest die drei Oppositionsparteien um mehr Offenheit und Aufarbeitung, während sich die Regierungsparteien hiermit weiterhin schwer tun, wie nicht zuletzt die Herabwürdigung von Gutachtern der Enquete-Kommission zeigt.

Was aber sind die Ursachen für den pfleglichen Umgang mit der DDR und die heutigen Kontroversen über deren Bewertung? Die Antwort findet sich m.E. auf zwei Ebenen – dem Umgang mit den MfS-Kontakten von Manfred Stolpe und den Einstellungen der Bevölkerungsmehrheit zur DDR, speziell auch zur Stasi.

Der langjährige Ministerpräsident Manfred Stolpe hatte als Konsistorialpräsident der evangelischen Kirche über zwei Jahrzehnte rege Kontakte mit dem MfS. Nach seiner Auffassung waren diese im Interesse der Kirche notwendig, während seine Kritiker, unter ihnen viele ehemalige Bürgerrechtler, eine Tätigkeit im Auftrag der Stasi sahen. Diese diametralen Auffassungen existieren bis zum heutigen Tag. Fest steht: Nach den Maßstäben des MfS war Stolpe ein IM („Sekretär“) und wurde auch als solcher in den Akten geführt. Da jedoch keine schriftliche Verpflichtungserklärung in den archivalischen Hinterlassenschaften der Stasi auffindbar ist, wehrt(e) sich Manfred Stolpe gegen den Vorwurf, er sei wissentlich IM gewesen. Das Bundesverfassungsgericht untersagte – im Gegensatz zum Bundesgerichtshof – unter Hinweis auf das Persönlichkeitsrecht die Äußerung, Stolpe sei als IM „Sekretär“ für den Staatssicherheitsdienst tätig gewesen. Die Akte des „IM Sekretär“ wurde von der Stasi vernichtet, insofern mangelt es bisher an einem Wahrheitsbeweis.

In den Akten jedoch vorhanden ist der Befehl des Stasi-Chefs Erich Mielke, den IM „Sekretär“ und andere IM „für große Verdienste, hohe persönliche Einsatzbereitschaft und exakte Durchführung übertragener komplizierter Aufgaben zur Sicherung unseres sozialistischen Vaterlandes vor feindlichen Anschlägen und zur Erhaltung des Friedens“ die DDR-Verdienstmedaille zu verleihen. Stolpe gab den Erhalt der Medaille zu, bestritt aber, sie aus den Händen eines sich erinnernden MfS-Mitarbeiters bekommen zu haben.

Der erste Brandenburger Landtag setzte eigens eine Untersuchungskommission ein, um die Rolle Stolpes in der DDR zu klären. Durch die Unterstützung der PDS-Fraktion unter ihrem Vorsitzenden Lothar Bisky und dem Strippenzieher Heinz Vietze – vormals Erster SED-Bezirkssekretär in Potsdam – gelang es der SPD, per Mehrheit Stolpe zu entlasten und als Ministerpräsidenten zu halten. Nach den vom Landtag selbst aufgestellten Kriterien für eine Stasi-Mitarbeit hätte er jedoch ebenso wie bis zu achtzehn weitere Abgeordnete (von 100) sein Landtagsmandat aufgeben müssen, stellte jetzt ein Gutachten fest.

In dem Zusammenwirken von SPD und PDS bei der Entlastung Stolpes dürfte der Schlüssel für den Brandenburger Weg zur weitgehend unterbliebenen Aufarbeitung der SED-Diktatur liegen. Überprüfungen auf Stasi-Belastung und Entscheidungen über Entlassungen mussten angesichts des Falles Stolpe zwangsläufig milde ausfallen und (unterbliebene) fortgesetzte Überprüfungen würden den Fall immer wieder aktualisieren. Der Pakt zur Verdrängung der diktatorischen Vergangenheit hielt fast zwei Jahrzehnte.

Der SPD, die sich ja als erklärte Gegnerin der Diktatur gründete, war die Popularität ihres Ministerpräsidenten wichtiger als eine schonungslose und nachhaltige Aufarbeitung der sozialistischen Diktatur. Die PDS wiederum wusste um ihre Verwundbarkeit nicht nur durch Stasi-Tätigkeiten vieler Abgeordneter, sondern vor allem durch ihre eigene Vergangenheit, da sie die Hauptverantwortung für die Aufrechterhaltung der Diktatur trug. Offenbar glaubte man, dass im Laufe der Jahre darüber Gras wachsen würde. Dass fast zwanzig Jahre später dieser pflegliche Umgang mit der DDR noch einmal öffentliches Thema werden würde, hatte man wohl nicht erwartet. Dabei hätten SPD und PDS aus dem (unterschiedlichen) Umgang mit dem Nationalsozialismus in beiden deutschen Staaten und im wiedervereinigten Deutschland lernen können, dass die Vergangenheit immer nur ruht und jederzeit alte Wunden wieder aufbrechen können.

Der zweite Grund für den Brandenburger Weg dürfte in einer „entspannten“ Einstellung einer Bevölkerungsmehrheit zur DDR liegen. Schon wenige Jahre nach dem Untergang des Arbeiter-und-Bauern-Staates plädierte eine absolute Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung für einen Schlussstrich unter die Stasi-Debatte. Im Jahre 1992 stimmten gut 54 Prozent, sechs Jahre später sogar knapp 71 Prozent der Aussage zu: „Man sollte endlich aufhören, danach zu fragen, ob jemand während des alten DDR-Regimes für die Stasi gearbeitet hat.“ Gleichzeitig setzte sich eine wohlwollende Betrachtung der DDR durch. Ihr wurden nun mehr gute als schlechte Seiten zugesprochen.

Da zudem jenseits einer direkten Stasi-Belastung deutlich mehr Personen als bisher öffentlich thematisiert in das diktatorische System eingebunden waren, war und ist eine kritische Betrachtung der repressiven Dimensionen der DDR nicht nur in Brandenburg nicht sehr populär. Die Verstrickung in die Diktatur wurde und wird von den allermeisten verschwiegen. Erst wenn sie öffentlich wird, gibt man sie zu und behauptet dann frech, man würde mit der eigenen Biografie ja offen umgehen. Zugegeben wird immer nur das, was aktenkundig ist, weiteres verschwiegen.

Stolpe und die SPD verstanden es darüber hinaus geschickt, jede Kritik an seiner Person als einen generellen Angriff auf ostdeutsche Biografien hinzustellen. Dieses Vorgehen erfreut sich bis zum heutigen Tag auch bei der PDS großer Beliebtheit. Kritik an der DDR und ihren Verantwortlichen wird umgemünzt in einen angeblichen Angriff auf das Leben aller ehemaliger DDR-Bürger.

Die mehrfach umbenannte SED, die sich inzwischen mit einer kleinen westdeutschen Partei zusammengeschlossen hat, schafft es in ihrem Programmentwurf nicht einmal, die DDR als Diktatur oder gar – wie einst Willy Brandt – als Unrechtsregime zu bezeichnen. Sie belässt es bei einigen kritischen Anmerkungen zum autoritären Charakter der Herrschaft und garniert diese Kritik mit Lob für soziale Errungenschaften und angebliche lebendige Sozialismusdiskussionen.

Wenn es um die Beschäftigung Stasi-belasteter Personen im öffentlichen Dienst geht, wird jetzt gesagt, jeder hätte eine zweite Chance verdient. Das ist zwar richtig, ändert aber nichts daran, dass eine zweite Chance mit einem offenen Umgang mit der eigenen Biografie verknüpft sein muss. Erst vor diesem Hintergrund dürfen Entscheidungen getroffen werden, wer in welcher Position tragbar ist.

Sollte zum Beispiel ein ehemaliger DDR-Richter, der mit fadenscheinigen Gründen Ausreisewillige zu Gefängnisstrafen verurteilte, weiterhin Richter sein, oder eine ehemalige SED-Wissenschaftlerin, die Ende der achtziger Jahre in ihrer Dissertation das politische Strafrecht der DDR lobte und für international vorbildlich erklärte, Leiterin der Landeszentrale für politische Bildung sein? Hätten beide Personen ihre Positionen auch erhalten, wenn ihre Vergangenheit bekannt gewesen wäre oder war das bei den einstellenden Behörden sogar der Fall? Warum wurden in Polizei und Justiz – deutlich häufiger als in anderen Ländern – so viele belastete Personen übernommen? Richter und Staatsanwälte waren in der DDR auch jenseits einer Stasi-Belastung aktiv in die Verfolgung und Unterdrückung politisch Andersdenkender eingebunden.

Eine Minderheit in Brandenburg, nicht nur ehemalige Verfolgte und Bürgerrechtler, fragt sich zu Recht, wo die vielen SED- und Stasikader geblieben sind, die die Diktatur aktiv mittrugen. Vereinzelt begegnen ehemalige Opfer ihnen auf Arbeitsämtern oder in öffentlichen Behörden. Sie sind schockiert und zweifeln an der Demokratie im wiedervereinigten Deutschland, die diesem Personenkreis, aber nicht ihnen eine zweite Chance gibt. Lassen sich in jüngster Zeit aufgedeckte Fälle von Kumpaneien ehemaliger SED- und Stasi-Kader verallgemeinern oder sind sie Einzelfälle? Eine systematische Untersuchung über den Verbleib ehemaliger Partei- und Staatskader und ihre Netzwerke liegt leider nicht vor, sodass für Spekulationen breiter Raum bleibt.

Die Diskussionen in der Enquete-Kommission und die Kontroversen über ihre Arbeit sind ein doppeltes Lehrstück. Sie offenbaren, warum die Aufarbeitung der sozialistischen Diktatur so halbherzig blieb und dass Vergangenheit nicht so schnell vergeht, wie es sich manche wünschen.

Die Arbeit der Enquete-Kommission kann verdienstvoll für die politische Kultur des Landes Brandenburg sein, wenn die Mitglieder endlich konstruktiv zusammenarbeiten. Eine angemessene, Demokratie stärkende Aufarbeitung der DDR, die über die Diskussion von Stasiverstrickungen hinaus geht, hat eine zweite Chance verdient!

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