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Brandenburg: „Nichts mehr als mein eigenes Leben“

Über eine Million deutscher Kriegsgefangener aus Russland wurden in Frankfurt (Oder) wieder zu Zivilisten. Die Auffanglager dort waren seit 1946 das Nadelöhr auf dem Weg aus Russland in die Freiheit

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Frankfurt (Oder) - Willi Bellgardt war einer der letzten Heimkehrer, die im Lager Gronenfelde in Frankfurt an der Oder eintrafen: „Es war Mittwoch, der 3. Mai 1950, als ich den Spravka (Entlassungsschein) erhielt (...). Mit 17 Jahren wurde ich zum Militär geholt und war mit 25 Jahren aus der Gefangenschaft zurück.

Die Jugend hat man mir gestohlen.“ Zwar habe er in Gronenfelde seine Freiheit wiederbekommen. Doch er hatte „keine Heimat mehr“. Eltern und vier Geschwister waren im Krieg umgekommen: „Nun besaß ich nichts mehr als mein eigenes Leben und den unbeirrbaren Willen dazu.“ Rund 1,2 Millionen ehemalige Kriegsgefangene aus der Sowjetunion durchliefen bei ihrer Rückkehr die Stadt. Sie hatten Krieg, Gefangenschaft und Transport überlebt. Die ersten kamen vor 70 Jahren, am 27. Juli 1946, die letzten am 3. Mai 1950.

Erste Station war die Hornkaserne, das „Lager 69“ unter russischer Verwaltung. Dann, bereits wieder Zivilisten, wurden die ausgemergelten Gestalten durch das nahe gelegene Lager Gronenfelde geschleust, die zentrale Station für sämtliche Russlandheimkehrer.

Nach maximal 24 Stunden verließen sie es – entlaust, verpflegt, frisiert und notdürftig eingekleidet. „In Westdeutschland Beheimatete kamen nach Friedland, die anderen wurden in eines der 65 Heimkehrerlager der Sowjetzone überführt“, berichtete Zeitzeuge Peter Krier.

Obwohl die Stadtverwaltung auf Anweisung der Russen im Frühjahr 1946 eilig mehrere Auffanglager eingerichtet hatte, war die Stadt phasenweise von Heimkehrern überschwemmt. Tausende starben während der strapaziösen Heimfahrt oder an Entkräftung und Krankheit in den überfüllten Nothospitälern. 1946 überlebte Statistiken zufolge jeder neunte Heimkehrer die Zugfahrt gen Heimat nicht.

„Unter denkbar schweren ideellen und materiellen Umständen, ohne geeignete Hilfsmittel, ohne ausreichende medizinische Versorgung, Heizmaterial, Bekleidung, Treibstoff und Ernährung wurden innerhalb kurzer Zeit Millionen Gefangener nach Deutschland zurückgebracht“, beschreibt die Historikerin Annette Kaminsky.

Grauenhafte Szenen spielten sich in den Lazaretten ab. Der örtliche Bahnhofsvorsteher gab zu Protokoll, dass die Männer „in einer unvorstellbaren Weise verelendet ankamen“. So konzentriert wie in Frankfurt „ist das Grauen wohl nur in wenigen anderen Orten in Erscheinung getreten“. Vor allem in den Nothospitälern herrsche großes Leid: „In Lumpen gehüllt lagen die Menschen zusammengekrümmt auf der Erde.“ Frankfurt, an der Hauptbahnverbindung zwischen Berlin und Moskau gelegen, war bereits kurz nach Kriegsende voller Menschen. Hier kamen nicht nur die ersten, unkoordiniert entlassenen Heimkehrer aus Russland an, über dieses Drehkreuz gingen auch Hunderttausende Männer in die sowjetischen Lager, zur Zwangsarbeit als Reparationsleistung.

Lawrenti Berija, seit 1938 berüchtigter Chef der sowjetischen Geheimdienste, hatte schon im April 1945 angeordnet, dass „Invaliden, alte Männer und nicht Arbeitsfähige nach der Überprüfung“ zu entlassen seien. Staatschef Josef Stalin stimmte dem jedoch erst zu, als genügend neue Arbeitskräfte eingetroffen waren. Am 4. Juni wurde beschlossen, „bis zu 225 000 arbeitsunfähige Kriegsgefangene aus den rückwärtigen Lagern und Speziallazaretten in die Heimat zu entlassen“. „Über 1950 hinaus blieben zunächst rund 30 000 Gefangene zurück.

Hier spielte deren Arbeitsleistung keine wirkliche Rolle mehr“, erläutert der Historiker Andreas Hilger. Es habe sich um in Strafprozessen Verurteilte gehandelt, die erst nach dem Tod Josef Stalins 1953 auf ihre Entlassung hoffen konnten.

Von der deutschen Presse wurden die geordneten Rückführungen ab Juli 1946 beschrieben als „Aktion der 120 000“. Tatsächlich kamen zunächst knapp 144 000 Kriegsgefangene frei, für 1947 waren 370 000 Heimkehrer angekündigt, 1948 sollten weitere 500 000 folgen.

Diese Zahlen lösten in der Heimat Bestürzung aus. Ging man doch davon aus, dass sich noch weit mehr Ex-Soldaten in sowjetischem Gewahrsam befanden. Zu Recht: Spätere Forschungen bestätigten, dass zeitweise mehr als drei Millionen Deutsche in der Sowjetunion inhaftiert waren. 1,2 Millionen Wehrmachtsangehörige verschwanden spurlos.

Umgekehrt waren während des Zweiten Weltkrieges fast sechs Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Gefangenschaft geraten.

Mehr als drei Millionen kamen in Todeslagern oder bei Zwangsarbeit um, starben an Hunger, Kälte, Epidemien oder wurden von der Wehrmacht erschossen. Ihr Tod sei „eines der größten deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs“ gewesen, sagte Bundespräsident Joachim Gauck im vergangenen Jahr.

Für viele rückgekehrte deutsche Kriegsgefangene brachte die Freiheit kein großes Glücksgefühl. Sie mussten sich dem totalen staatlichen Zusammenbruch stellen. Oder, wie der Historiker Wolfgang Benz festhält: Es reifte in ihnen die Erkenntnis, dass Lebensverhältnisse, Beziehungen zerstört waren: „Heimkehr wurde dann zum Trauma“. Dirk Baas

Auf dem Gelände der früheren Hornkaserne, heute Polizeidirektion Ost, gibt es eine Ausstellung zum Thema. Zu besichtigen nach Voranmeldung über die Pressestelle unter Tel.: (0335) 56 12 020

Dirk Baas

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