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Bundesverfassungsgericht rügt Brandenburg: Wenn der Staat versäumt, seiner Pflicht zu genügen
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe rügt die Justiz in Brandenburg - und indirekt die Landesregierung. Geklagt hat ein mutmaßlicher Krimineller, der 18 Monate in Untersuchungshaft saß. Über einen schweren Grundrechtsverstoß wegen Personalnot in Justiz.
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Karlsruhe/Potsdam - Anderthalb Jahre saß ein 50-jähriger, wegen millionenschwerer Tabaksteuerhinterziehung Angeklagter in Brandenburg in Untersuchungshaft. Aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts war das ein klarer Verstoß gegen die Grundrechte des Mannes. Das stellte Karlsruhe in einem erst jetzt veröffentlichten Kammerbeschluss bereits am 13. Oktober fest und gab damit der Verfassungsbeschwerde des Betroffenen statt (2 BvR 1275/16).
Der Mann muss sich aktuell seit Juni zusammen mit fünf mutmaßlichen Komplizen vor dem Landgericht Potsdam wegen Steuerhinterziehung in großem Stil verantworten. Die Beschuldigten sollen unversteuerte Zigaretten über einen längeren Zeitraum aus Italien nach Nauen (Havelland) geschmuggelt haben. Der vermutete Steuerschaden liegt laut Anklage bei knapp 58,5 Millionen Euro.
Es brauchte fünf Anläufe für den Prozess
Der 50-Jährige wurde im November 2014 verhaftet und befand sich bis Mitte Juli 2016 in U-Haft. Eigentlich wird eine Verlängerung über die zulässigen sechs Monate nur in Ausnahmen gewährt. Insgesamt vier Mal wurde die Hauptverhandlung entweder wegen einer Erkrankung eines Richters oder aus Mangel an Ergänzungsrichtern oder Besetzungsfehlern bei der Schöffenauswahl ausgesetzt und neu gestartet. Ein Vorsitzender Richter hatte sogar eine Überlastungsanzeige erstattet.
Im Mai 2016 wies das Oberlandesgericht Brandenburg (OLG) eine Haftbeschwerde des 50-Jährigen zurück. Schon zuvor hatte es mehrfach die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Gegen den Antrag des Angeklagten befand es im Mai, die U-Haft sei auch mit der langen Verfahrensdauer nicht unverhältnismäßig. Schließlich habe das Verfahren hohe Bedeutung. Dem bei Haft besonders geltenden Beschleunigungsgebot der Justiz sei Genüge getan, zumal der große Aktenumfang – mehr als 35 000 Seiten – zu berücksichtigen sei. Hiergegen legte der 50-Jährige Verfassungsbeschwerde ein.
Nicht genügend Richter und ein Oberlandesgericht ohne nötigen Tiefgang?
Das Bundesverfassungsgericht befand: „Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen.“ Und das OLG habe bei seiner Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht den „Anforderungen zur verfassungsrechtlich gebotenen Begründungstiefe“ genügt.
In der Zwischenzeit kam der 50-Jährige auf Kaution frei, weil das Gericht den Haftbefehl aussetzte. Auch diese Entscheidung ist laut Bundesverfassungsgericht nicht in Ordnung. Es verwies das Verfahren zurück an das OLG. Das muss nun prüfen, ob die Voraussetzungen der Untersuchungshaft noch vorliegen. Andernfalls muss es den – außer Vollzug gesetzten – Haftbefehl aufheben.
Das Land muss die Kosten des Verfahrens erstatten
Brandenburgs Justizministerium hatte dem Beschluss aus Karlsruhe zufolge in einer Stellungnahme an das Bundesverfassungsgericht erklärt, die Personalausstattung des Landgerichts Potsdam messe sich nach einem bundesweit einheitlich angewandten Berechnungssystem. Darüber hinaus wollte sich das Ministerium gegenüber den Bundesverfassungsrichtern nicht äußern.
Dennoch muss das Land Brandenburg dem 50-Jährigen alle notwendigen Auslagen erstatten. Die gehen vor allem an den Anwalt, das Bundesverfassungsgericht setzte den Wert seiner Tätigkeit auf 10 000 Euro fest. Nun könnte der Angeklagte darüber hinaus noch Schadensersatz fordern für die überlange Untersuchungshaft.
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