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100 Jahre Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker über Kriegsfolgen, das Versagen der Diplomatie, die Schuldfrage und europäisches Gedenken
Stand:
Herr Görtemaker, der Erste Weltkrieg gilt heute als die Urkatastrophe des Jahrhunderts. Eine richtige Einschätzung?
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts wäre ohne diesen Krieg völlig anders verlaufen. Der Erste Weltkrieg war der Auftakt einer rund 25-jährigen Periode extremer Unsicherheit. Am Ende stand ein zweiter Weltkrieg, der schließlich in den Kalten Krieg mündete. Das gesamte Jahrhundert wurde damit durch den Ersten Weltkrieg vorgeprägt.
Sie sehen also eine klare Kontinuitätslinie vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg?
Der Erste Weltkrieg hat vor allem eine große Instabilität ausgelöst. Das alte europäische Mächtesystem zerbrach. Traditionelle europäische Großmächte wie Deutschland, Frankreich und selbst Großbritannien verloren ihre führende Position, während die USA und Sowjet-Russland an Bedeutung gewannen und später die Welt dominierten. Zudem ist dieser Krieg nicht nur wegen der hohen Opferzahlen von bis zu 17 Millionen Toten, sondern auch wegen seiner ökonomischen Folgen so bedeutend. Zwar waren die eigentlichen Zerstörungen auf Nordfrankreich und Belgien begrenzt. Aber der Krieg führte in den 1920er-Jahren zu Wirtschaftskrisen, die starke politische Radikalisierungen zur Folge hatten. Hinzu kommt, dass der Krieg auch eine neue ideologische Frontstellung schuf: zwischen den westlichen Demokratien und der kommunistischen Sowjetunion. Ohne diesen Krieg wäre die Sowjetunion nicht entstanden.
Dieser Weltkrieg gilt auch als Auslöser von Kommunismus und Faschismus.
Das sind die beiden großen radikalen Strömungen, die sich direkt auf den Krieg zurückführen lassen. Die Revolution Lenins im Oktober 1917 hätte niemals erfolgreich sein können, wenn die russische Bevölkerung nicht derart kriegsmüde gewesen wäre, dass sie demjenigen folgte, der ihr sofortigen Frieden versprach. In Deutschland und Italien profitierten Hitler und Mussolini von der durch den Krieg ausgelösten Wirtschaftskrise. Der Sowjet-Kommunismus, der deutsche Nationalsozialismus und der italienische Faschismus sind also unmittelbare Folgen des Krieges. Das läutete dann ein Zeitalter der Ideologien ein, in dem nach 1945 der Kalte Krieg entstand.
Der Krieg verursachte eine bis dahin ungekannte Migrationsbewegung in Europa. Mit welchen Folgen?
Es kam zur Entwurzelung sehr großer Bevölkerungsgruppen, weil Reiche an ihren Rändern zerfransten oder zerfielen und Europa neu geordnet werden musste. Ein Beispiel dafür ist der Zerfall des Habsburgerreiches. Das hatte weitreichende Auswirkungen in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan. Außerdem radikalisierte sich der Nationalismus, der bereits im 19. Jahrhundert gewachsen war. Nationale Gegensätze mischten sich mit ethnischen, religiösen und ideologischen Konflikten und erhielten schließlich – vor allem in Deutschland – sogar eine rassische Dimension.
100 Jahre nach Ausbruch des Krieges hat nun der Historiker Christopher Clark die Schuldfrage neu gewichtet: Weg vom deutschen Kaiserreich hin zu Serbien. Ist das gerechtfertigt?
Die Debatte über die deutsche Kriegsschuld, die es seit der Versailler Konferenz 1919 gab, aber durch die Fischer-Kontroverse seit den 60er-Jahren nochmals angeheizt wurde, hat den Blick auf die komplexe Kausalität dieses Krieges lange verstellt. Heute blicken wir sehr viel genauer auf die einzelnen Beteiligten. Deutschland trug zweifellos eine Mitschuld; das war in der Konstruktion des Zweibundes mit Österreich-Ungarn angelegt, der falsche Erwartungen weckte und einen gefährlichen Bündnisautomatismus auslöste. Aber es gibt eben auch eine Reihe anderer Länder, die man von Schuld nicht freisprechen kann.
Sie meinen Serbien?
Serbien ist ein gutes Beispiel. Durch seine radikalen Bemühungen, ein Großserbien auf dem Balkan zu schaffen, hat es maßgeblich dazu beigetragen, das Attentat von Sarajewo auf den österreichischen Thronfolger auszulösen und damit den Krieg zu entfachen. Die serbische Terrororganisation „Schwarze Hand“ war daran maßgeblich beteiligt. Oft übersehen wird allerdings die Mitschuld Russlands und Großbritanniens. Russland unterstützte Serbien und leitete früh die Mobilisierung seiner Truppen ein. Großbritannien war nicht nur wegen der Flottenfrage, sondern auch wegen der ökonomischen Konkurrenz schon lange vor dem Krieg ein unversöhnlicher Gegner Deutschlands. Im Bündnis mit Frankreich und Russland glaubte es zur Schwächung Deutschlands beitragen zu können. Schließlich hielten praktisch alle großen Mächte den Krieg irgendwann für unvermeidlich. Überraschend war deshalb nicht, dass der Krieg ausbrach, sondern dass es erst 1914 dazu kam.
Der deutsche Kaiser Wilhelm II. versuchte nach anfänglichem Drängen, eine Kriegserklärung doch noch abzubremsen, was Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg aber sabotierte.
Der Kaiser war bereits mehrfach vor dem letzten Schritt zurückgeschreckt. Es hätte viel früher eine Möglichkeit zum Krieg gegeben, beispielsweise während der Marokko-Krise 1905/06 oder der bosnischen Annexionskrise 1908/09. Die deutschen Militärs rieten schon hier zum Kampf, den alle für unvermeidlich hielten, weil sie zu Recht befürchteten, dass sich die deutsche Position zunehmend verschlechterte. Denn Großbritannien, Frankreich und Russland schlossen sich immer enger zusammen. Doch der Kaiser wollte nicht, weil er der Meinung war, dass ein ausreichender Kriegsgrund fehlte. Wer nur den Kaiser als Kriegstreiber darstellt, tut ihm daher Unrecht. Auch am Ende der Juli-Krise 1914 suchte er Österreich-Ungarn von einem Angriff gegen Serbien abzuhalten. Aber der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn, das Auswärtige Amt und Reichskanzler Bethmann Hollweg hintertrieben seine Initiative. Die größte Schuld liegt also bei den Militärs und der deutschen Diplomatie, die nicht begriffen, dass eine gleichzeitige Gegnerschaft zu Großbritannien, Frankreich und Russland eine Konstellation bedeutete, die letztlich in einer Katastrophe enden musste.
Auch die Dominanz Deutschlands in Europa war damals ein großes Thema.
Dass haben natürlich vor allem die Briten so gesehen. Das Gleichgewichtssystem des 19. Jahrhunderts konnte nur funktionieren, solange es keine Hegemonialmacht in Europa gab. Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 entstand aber ein militärisch starker Staat, der sich zudem wirtschaftlich, wissenschaftlich und technologisch als enorm kreativ, effizient und erfolgreich erwies. Das hatte weitreichende Folgen. Denn die neue Vormachtstellung der Deutschen musste bei den anderen Nationen Ressentiments wecken. Der Zweibund, die Annäherung an die Türkei und der Bau der Bagdadbahn – einer Eisenbahnverbindung von Berlin über Konstantinopel bis in den Irak –, aber auch die Marinerüstung schienen die deutschen Machtansprüche zu belegen. Das führte insbesondere in der englischen Presse dazu, antideutsche Gefühle zu mobilisieren. Nationale Leidenschaften wurden nun in einem Maße aufgepeitscht wie nie zuvor.
Die Bundesregierung will in diesem Gedenkjahr die europäische Perspektive betonen, während andere Länder vielmehr die Geburtsstunde ihrer Nation feiern.
Ganz wichtig ist, dass sich die deutsche Politik nach zwei Weltkriegen grundlegend gewandelt hat. Die Deutschen haben die richtigen Lehren aus ihren verhängnisvollen Fehlern gezogen. Das sollte in den Gedenkfeiern auch zum Ausdruck kommen. Es sollte keine nationalen Gedenktage geben, sondern das Gedenken sollte auf europäischer Ebene stattfinden. Tatsächlich ist ja aus der Erfahrung der beiden Weltkriege die europäische Integration hervorgegangen. Also nicht nur die Deutschen, sondern auch die anderen Nationen haben gelernt. Das vereinte Europa von heute wäre ohne die doppelte Katastrophe zweier Weltkriege, die von Europa ausgingen, nicht denkbar gewesen.
Welche Fragen haben die Historiker noch an diesen Krieg?
Die Ursachen werden weiter differenziert erforscht werden, um die Anteile aller Nationen, Regierungen und Personen, die an den Entscheidungen beteiligt waren, sowie die dahinterliegenden Strukturen noch deutlicher als bisher herauszuarbeiten. Aber wir müssen uns auch umfassend mit den Folgen dieses Krieges befassen – das heißt mit der Frage, wie man eigentlich einen Krieg nachhaltig beendet. Wir wissen, dass die Pariser Friedenskonferenz von 1919 viel dazu beigetragen hat, Entwicklungen auszulösen, die dann zum Zweiten Weltkrieg führten. Die Frage ist also, wie es gelingen kann, nicht nur den Kampf zu beenden, sondern auch auf den Trümmern des Krieges eine sichere und stabile Ordnung zu errichten. Und diese Forschung kann nicht in einem nationalen Rahmen erfolgen, sondern muss von vornherein europäisch und international ausgerichtet sein.
Was können wir daraus lernen?
Wir müssen unsere Geschichte im 20. Jahrhundert über einen längeren Zeithorizont hinweg betrachten. Die tragischen Erfahrungen der beiden Weltkriege und die Phase der Instabilität in der Zwischenkriegszeit, aber auch der daraus hervorgegangene Kalte Krieg haben gezeigt, dass man in den internationalen Beziehungen neue Wege beschreiten muss. Teilweise ist dies bereits geschehen. Die UNO, die europäische Integration sowie die aktuellen Bemühungen um die Eindämmung von Krisen und Konflikten sind Beispiele dafür, wie Politik sich nach 1945 verändert hat. Dass es nicht in jedem einzelnen Fall gelingen kann, Kriege zu verhindern, wissen wir. Dazu sind die Probleme, die es auf der Welt gibt, zu vielfältig. Aber es sollte unser Ziel sein, über Europa hinaus eine Politik der globalen Integration zu verfolgen und eine Völkergemeinschaft anzustreben, in der nicht Aggression und Gewalt, sondern Ausgleich und Stabilität vorherrschen.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller
100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs sprechen die PNN in den kommenden Monaten mit Potsdamer Wissenschaftlern zu Hintergründen, Begebenheiten und Auswirkungen dieses Krieges.
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