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Blickwechsel. Zeithistoriker betrachten nun auch die langfristige Vorgeschichte des Mauerfalls. Auch die Krisenzeit der 1970er- und 80er-Jahre hatte demnach starken Einfluss auf das deutsch-deutsche Verhältnis. Einerseits kam man sich näher, andererseits entstanden neue Differenzen, die auch über 1990 hinaus wirkten.

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Homepage: „Die Probleme haben die Mauer überbrückt“

Der Zeithistoriker Frank Bösch über einen neuen Blick auf den Mauerfall, eine längerfristige gesamtdeutsche Perspektive und die Annäherung der DDR an den Westen

Stand:

Herr Bösch, Sie betrachten den Mauerfall 1989 in einem breiteren zeitlichen Rahmen. Was zeigt sich dabei?

In gewisser Weise sind unser Projekt und die Konferenz ein Gegenakzent zur Thematisierung des Mauerfalls in den letzten Wochen. Letztere erinnerte eher punktuell an die Ereignisse 1989. Dagegen versuchen wir, die rasanten Veränderungen in der DDR und die der Bundesrepublik in einer längerfristigen gesamtdeutschen Perspektive zu erklären. Statt der kurzfristigen Straßenproteste und Wiedervereinigungspolitik analysieren wir grenzübergreifende Problemkonstellationen, die seit den 1970er-Jahren entstanden und die Reaktionen darauf in Ost- und Westdeutschland.

Um welche Problemlagen geht es?

In den 70er-Jahren entstanden Herausforderungen, die selbst die neu ausgebauten Grenzanlagen leicht überbrücken. Die ökonomische Krise, die stark steigenden Energiekosten oder die Umweltprobleme waren in ganz Europa spürbar. Gleiches gilt für den Wandel der Arbeitswelt, der Medien oder die digitale Revolution. Dies wurde im Westen zwar frühzeitiger und intensiver rezipiert, dann zeitversetzt aber auch im Osten. Verdreckte Luft, verschmutzte Flüsse oder die Radioaktivität aus Tschernobyl machten eben nicht am Stacheldraht halt, ebenso nicht deren Problematisierung. Derartige Interaktionen prüfen wir für zahlreiche gesellschaftliche Bereiche, von der Wirtschaft und Finanzverflechtung über die Jugendkultur bis hin zum Sport. Denn auch der Sport gewann in den 1970ern ja eine neue Bedeutung im Kalten Krieg: Er förderte Begegnungen, Abgrenzungen und wurde durch Doping und Boykotte zum grenzübergreifenden Problem.

Sie richten also einen völlig neuen Blick auf die Ereignisse?

Wir sehen Zeitgeschichte stark auch als Vorgeschichte gegenwärtiger Problemlagen und Herausforderungen. Das ist ein Perspektivwechsel: Während früher Zeitgeschichte als Nachgeschichte des Nationalsozialismus galt und in den 1970er-Jahren endete, schauen wir nun vom wiedervereinigten Deutschland auf dessen Vorgeschichte.

Was waren die Ursachen des Krisenempfindens der 70er- und 80er.Jahre?

Es gibt natürlich ein Bündel von Ursachen. Die Bildungsexpansion schärfte das Problembewusstsein und die Erwartungen. Gleiches galt für die Medialisierung, da so fortwährend kritische Beobachtungen der Gesellschaft über das Westfernsehen auch in den Osten gelangten. Eine Ursache war auch die Prägung der Generationen. Die Generation, die sich kritisch verhielt und protestierte, das waren die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge der 1950er-Jahre – im Westen bei den Friedensdemos und im Osten vor dem Mauerfall. Das ist eine Generation mit hoher Bildung und – gerade auch in der DDR – mit geringeren Aufstiegschancen. Im Westen erfuhr sie in den 80er-Jahren als erste die Arbeitslosigkeit und wurde auch nicht im öffentlichen Dienst aufgefangen. Und schließlich war die wirtschaftliche Umstrukturierung nach dem Nachkriegsboom prägend. Eine generöse Verteilung des Wohlstandes, der bisher sehr beruhigend wirkte, war in der Form nicht mehr möglich.

Sie haben sich den Wandel des Politischen genauer angeschaut. Mit welchem Ergebnis?

In den 1970/80ern wurden die beiden Teile Deutschlands eigenständiger. Aber gerade das erleichterte den politischen Austausch im Rahmen einer expandierenden internationalen Diplomatie. In der Gesellschaft können wir im Westen eine starke Phase der Politisierung ausmachen: Proteste nehmen zu, Umfragen zeigen ein gesteigertes Interesse an Politik, die Auflagen der politischen Tagespresse steigen. Wie sich das politische Interesse in der DDR veränderte, ist dagegen schwerer auszumachen. Hier zeigte mein Kollege Jens Gieseke anhand von internen Berichten und Umfragen, dass die Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt in der DDR zu einem starken politischen Interesse führte, das dann in Enttäuschung mündete. Die Mitgliederzahlen der SED stiegen weiter an, aber es setzte ab circa 1975 eine innere Abkehr – selbst bei den Parteimitgliedern – ein, die sich seit 1985 deutlich verstärkte. Die Wahrnehmung der ökonomischen Lage war dabei entscheidend. Bei den Protestbewegungen sind die Interaktionen noch deutlicher, etwa beim Engagement der Kirchen in der Friedensbewegung oder im Umweltbereich.

Lässt sich sagen, dass der Wandel aus der Krisenzeit am Ende die Mauer zu überbrücken half?

Eine Krise beschreibt immer eine bestimmte Wahrnehmung eines Phänomens. Dieses Bewusstsein für eine derartige Deutung des gesellschaftlichen Wandels finden wir in Ost und West. In beiden Teilen ging die Zukunftseuphorie verloren und der Glaube, eine bessere Gesellschaft schaffen zu können. Stattdessen stand in Ost und West seit den 1970er-Jahren im Vordergrund, innere Probleme zu bewältigen und den erreichten Lebensstandard zu halten. Die DDR scheiterte jedoch an den neuen Herausforderungen, weil die SED darauf weniger flexibel reagieren konnte und wollte.

Warum?

Eine marktwirtschaftliche Demokratie ist natürlich generell anpassungsfähiger und stärker zu Reaktionen gezwungen als eine planwirtschaftliche Diktatur, die nicht abgewählt werden kann. Zudem erschwerte die ökonomische Schwäche der DDR eine Anpassung an Herausforderungen wie Energie- oder Umweltprobleme oder den digitalen Umbruch.

Aber es gab doch Entwicklung im Osten?

Die SED war nicht blind und bemühte sich durchaus in einigen Bereichen, etwa mit der Gründung eines Umweltministeriums 1972 oder mit einem milliardenschweren Förderprogramm für die Mikroelektronik. Bei der Umsetzung fehlten freilich der politische Wille und der finanzielle Grundstock.

Es gab auch eine Annäherung zwischen Ost und West durch den Wandel. Wie sah das aus?

Indirekt und ungewollt führten die akuten Problemlösungsversuche zu direkten Annäherungen. So stabilisierten die von Franz Josef Strauß eingefädelten sogenannten Milliardenkredite Anfang der 80er-Jahre einerseits die DDR, andererseits gingen sie mit Zugeständnissen einher, die die Mauer aufweichten. So kam es zu mehr Begegnungen zwischen Ost und West und einer wachsenden Zahl an legalen Ausreisen und Verwandtschaftsbesuchen. Generell stieg die Kommunikation an, so die Zahl der Briefe und Telefonate. Am wichtigsten war die Interaktion beim Fernsehen und Radio, die über den oft zitierten Westempfang in der DDR hinaus reichte. Die DDR adaptierte deutlich mehr Medienformate und kaufte verstärkt westliche Fernsehsendungen und Filme ein. Tatsächlich sahen die Ostdeutschen deshalb durchaus Unterhaltungssendungen häufiger im DDR-Programm, politische Sendungen dagegen überwiegend im Westfernsehen. In der Alltagskultur wurden mehr westliche Produkte über Intershops zugänglich gemacht. Die DDR versuchte sich also an den Westen anzunähern, um die Legitimität ihres Staates zu erhöhen. Zugleich unterlief sie diese damit, da sie nie die gesteigerten Erwartungen einholen konnte.

Sie sprechen am ZZF nun auch von der „langen Geschichte der Wende“. Was ist darunter zu verstehen?

Lang ist im doppelten Sinn gemeint: Sowohl die Gesellschaftsgeschichte vor und nach 1989 wird einbezogen, da sich die Einstellungen der Ostdeutschen bereits vorher wandelten, aber umgekehrt danach nicht alles wie im Westen war. Blickt man nur auf 1989, hat man eine Erfolgsgeschichte, die vielfältige Problemlagen und Unterschiede nach 1990 überdeckt. In vielen Bereichen gibt es weiterhin fortbestehende Differenzen zwischen Ost und West. Nicht nur in der sozialen und ökonomischen Lage, sondern etwa auch in der politischen Kultur. Ostdeutsche üben beispielsweise politische Partizipation anders aus, stärker in der Tradition der Eingaben, geringer dagegen in Parteien und Gewerkschaften oder klassischen Protestformen. Selbst bei der Mediennutzung zeigen sich Differenzen: Das Privatfernsehen fand im Osten schneller Verbreitung, politische Magazine und die westdeutsche Tagespresse dagegen weniger. Hier zeigt sich eine Abneigung gegen den etablierten westdeutschen Politikbetrieb.

Und im Westen?

Ostdeutschland übernahm zwar in fast allen Bereichen nach 1990 die bundesdeutschen Strukturen, aber gleichzeitig gab es eine Ko-Transformation im Westen. Denn im Osten entstanden experimentartig neue Strukturen, die dann mitunter auch in den Westen wanderten. Zum Beispiel die rasante Privatisierung, die Deregulierung oder die Umstrukturierung im öffentlichen Dienst. In der Familien- und Bildungspolitik übernahm der Osten erst weitgehend das bundesdeutsche Modell, gab dann Impulse wie das 12-jährige Abitur, die Ganztagsschulen und Kitas gen Westen. Bei der Mediennutzung zeigten sich Trends wie der Rückgang an Abonnements der Tagespresse im Osten zuerst, dann auch im Westen. Zusammengefasst kann man sagen: Nicht nur die neuen Bundesländer änderten sich Anfang der 1990er, sondern auch die alten im Rahmen von internationalen Trends.

Ihr Fazit?

Generell erscheint es mir wichtig, die Veränderungen in Ost- und Westdeutschland nicht zu isoliert zu betrachten, sondern übergreifend im Rahmen von übergreifenden internationalen Herausforderungen. Und wenn wir punktuelle Ereignisse wie den Mauerfall an Jahrestagen erinnern, sollten wir nicht vergessen, dass historischer Wandel sich schrittweise vollzieht.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller.

Frank Bösch (45) ist Co-Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung und Professor an der Universität Potsdam. Er ist unter anderem Experte für Mediengeschichte.

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