Landeshauptstadt: Ein Kapitel mit Vorgeschichte
Was bedeutet es, wenn in Potsdam ein Gedenkstein für die Opfer von Flucht und Vertreibung geschändet wird?
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Was bedeutet es, wenn in Potsdam ein Gedenkstein für die Opfer von Flucht und Vertreibung geschändet wird? Von Jan Kixmüller Das Thema war lange Zeit kein Thema. Je stärker sich die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg der eigenen Schuld am Judenmord bewusst wurden, desto schwieriger wurde es, das eigene Leid zu beklagen. Zumal das Thema Vertreibung in Westdeutschland zu dieser Zeit von den Vertriebenenverbänden besetzt wurde. Die Katastrophe der Vertreibung der Deutschen aus dem Osten zum Kriegsende wurde durch Forderungen nach Rückgabe von Haus und Hof zum Unthema. Ein Tabu war geboren. Auch in der DDR, hätte sich eine kritische Haltung hier schließlich auch gegen die sozialistischen Bruderstaaten gewandt. Dann der Aufbruch in den letzten zehn Jahren. Günter Grass, der mit seiner Novelle „Im Krebsgang“ das Thema aus der rechten Ecke holen wollte, und die Bilder von Flucht und Vertreibung auf dem Balkan – eine wahre Flut der Erinnerung an die Flucht der Deutschen brach los, das Tabu war gebrochen. Unbequeme Fragen konnten wieder gestellt werden. Über 12 Millionen Deutschen verloren ihre Heimat, mehr als zwei Millionen Menschen hat die Flucht aus dem Osten das Leben gekostet. Der Umbruch wurde vor allem möglich, weil die Enkelgeneration der Vertrieben zum Großteil nicht mehr vom Wunsch nach Rückkehr und Vergeltung getrieben wurde, sondern vielmehr durch Fragen an die eigene Herkunft. Historiker wie Karl Schlögel wiesen nun darauf hin, dass die Geschichte der Vertreibung – „eine der gravierendsten Erfahrungen der Deutschen“ – nicht ausgelagert werde dürfe, sondern im nationalen Gedächtnis einen Platz bekommen müsse. In den ehemals deutschen Gebieten in Polen, Tschechien und Russland wuchs bei einer ebenso neuen Generation das Interesse an der deutschen Vorgeschichte ihrer Heimat. Doch was bedeutet es für diesen Umbruch, wenn nun in Potsdam ein Gedenkstein für die Opfer von Flucht und Vertreibung mit dem Spruch „Deutsche Täter sind keine Opfer“ beschmiert wird? Kritisiert wurde zur Enthüllung des Mahnmals, dass Ursache und Wirkung nicht verwechselt werden dürften. Der Protest zeigt, dass man noch lange nicht da ist, wo man sich schon wähnte. Auch die aktuelle Kontroverse um das geplante „Zentrum gegen Vertreibung“ macht dies deutlich. Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung ist, dass die Geschichtswerdung der Vertreibung nicht dazu führen darf, dies einschneidende Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte außerhalb des Rahmens der Vorgeschichte zu betrachten. Mit kühlem Kopf lässt sich das Kapitel der Vertreibung auch heute noch keineswegs betrachten. Denn auch wenn der wissenschaftliche Beirat der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibung“ – dem unter anderem der Potsdamer Völkerrechtler Prof. Eckart Klein angehört – fordert, dass der Kontext der Vorgeschichte und das ganze Zusammenspiel von ethnischen „Säuberungen“ beim Konzept eines solchen Zentrums aufgearbeitet werden müssen, hat das Projekt nur wenige Freunde. Die Bundesregierung fürchtet, ein solches Zentrum mit dem Standort Berlin sei als „Gegenentwurf zum Holocaust-Mahnmal“ gedacht, in Polen und Tschechien wird der Initiatorin vom „Bund der Vertrieben“ (BdV) Erika Steinbach vorgeworfen, sich nicht klar von Forderungen nach Rückgabe früheren deutschen Eigentums zu distanzieren. Die Flucht der Deutschen aus Schlesien, Pommern, dem Sudetenland und Ostpreußen begann mit der von den deutschen Behörden verfügten Evakuierung, als die sowjetische Armee zum Ende des Zweiten Weltkrieges vorrückte. Zur fast vollständigen Ausweisung beziehungsweise Umsiedlung der verbliebenen Deutschen kam es in den Jahren unmittelbar nach 1945 auf Grundlage der Beschlüsse der Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam. Die Vertreibung war, wie der Historiker Christian Meier beschreibt, begleitet von Mord und Vergewaltigung, Tod durch Tieffliegerbeschuss, Erschöpfung, Erfrieren, Ertrinken und Verschleppung in die Sowjetunion. Es fand eine riesiger Bevölkerungsaustausch statt, in die Gebiete aus denen die Deutschen vertrieben wurden – etwa die Region Breslau – wurden Flüchtlinge aus ostpolnischen Gebieten umgesiedelt, die nun an die Sowjetunion gefallen waren. Die wenigen verbliebenen Deutschstämmigen wurden im Falle Schlesiens „repolonisiert“, ihnen wurde die polnische Staatsangehörigkeit aufgezwungen. Die heutige Auseinandersetzung erwächst dadurch, dass dieses Leides gedacht wird, ohne dabei den historischen Rahmen zu betrachten. Die Dokumente belegen, dass Deutschland den Krieg im Osten als rassistische motivierten Eroberungsfeldzug betrieb. Der Hungertod von „zig Millionen“ Menschen in der Sowjetunion war eingeplant, um Lebensraum für Deutsche zu schaffen. Parallel zur singulären Katastrophe des Holocaust wurden auch zahlreiche Polen von Deutschen ermordet, schikaniert und umgesiedelt: ein unmündiges Sklavenvolk sollte übrig bleiben. Der Auslöser der gesamten Katastrophe muss immer mit gedacht werden. Der von den Deutschen weithin verbrecherisch geführte Krieg, ermöglichte erst alles, was in seiner Folge geschah, so Christian Meier. Das Schwierige ist nun, im Gedenken an die Opfer auf beiden Seiten auch die Verbrechen auf beiden Seiten zusammenzudenken – ohne sie gegeneinander aufzurechnen. Auch die Direktorin des Deutsche Kulturforums östliches Europa in Potsdam, Dr. Hanna Nogossek, warnt davor, das Leid der Vertreibung losgelöst von der deutsche Vorgeschichte zu betrachten. Die Vorgänge müssten zueinander in Beziehung gesetzt werden, wenn man die Vertreibung angemessen darstellen will. Vor dem Hintergrund der deutschen Verbrechen müsse auch die Sensibilität des Themas heute in Polen und Tschechien gesehen werden. „Die derzeitige Debatte ist äußerst wichtig, wenn sie auch für alle Seiten schmerzhaft ist“, sagt Hannah Nogossek (siehe Text rechts). Die Wunden müssten erst noch verheilen. In Polen und Tschechien ist der Ton heute schärfer und kritischer geworden. Die derzeitige Debatte in Deutschland belastet das Verhältnis zu den beiden Staaten, die in wenigen Monaten Mitglieder im Staatenbund der EU sind. Man befürchtet dort, dass das Leid der einen Seite gegen das der anderen gestellt werden soll. Wobei die Vertreibung des Sudentendeutschen heute noch drei Viertel der Tschechen im deutsch-böhmischen Grenzgebiet als gerecht erscheint. Noch heute müsse man trotz freundschaftlicher Beziehungen zu Deutschland auf den größeren Nachbarn aufpassen, ergab eine Umfrage. Das Misstrauen auf polnisch-tschechischer Seite wird verständlich, wenn man bedenkt, dass die Thematik heute in Deutschland auch von rechtsextremen Kreisen besetzt wird, oder etwa von der so genannten „Preußische Treuhand“, die Entschädigung für verlorenen Besitz verspricht. Dass allerdings deutsche Täter keine Opfer sind, wie von den Kritikern des Potsdamer Gedenksteins behauptet, ist historisch nicht haltbar, zumal in Zeiten des Krieges der Übergang vom Opfer zum Täter und umgekehrt immer fließend ist. Bleibt zu hoffen, dass die gemeinsame Forderung von Bundespräsident Rau und Polens Staatschef Kwasniewski nicht wirkungslos verhallt. Die Europäer sollten alle Fälle von Umsiedelung, Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts neu bewerten und dokumentieren, empfahlen die Staatsmänner jüngst vor dem Hintergrund der Debatte um das Vertreibungzentrum. Es gibt noch viel zu versöhnen.
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