Landeshauptstadt: Eine Straße für Opa
Ihr Großvater Ludwig Levy war ein stadtbekannter Anwalt: Mehr als 70 Jahre nach seiner Flucht machte sich die Londonerin Susan Dean jetzt auf Spurensuche
Stand:
Vor der Glienicker Brücke bleibt Susan Dean stehen. Macht ein Erinnerungsfoto. Dann wird die quirlige Londonerin still, geht ein paar Schritte auf die Brücke, bleibt wieder stehen, schüttelt den Kopf. „Unglaublich“, sagt sie: „Ich frage mich, was meine Mutter gedacht hat, als sie 1967 auf der anderen Seite stand.“ Fragen kann sie sie nicht mehr. Vera Marianne Levy, geboren am 17. Juli 1913 in Potsdam, starb 1987 in London. Susan Dean ist ihre jüngste Tochter. Ihre drei älteren Geschwister sind in Tel Aviv, Sidney und Liverpool geboren. 1933 wanderte Marianne Levy aus Potsdam nach Palästina aus. Lernte als Hotelangestellte in Haifa ihren späteren Mann Farid Teen kennen, einen libanesischen Arzt, der für die britische Armee arbeitete. Nahm für ihn den christlichen Glauben anstelle des jüdischen an, heiratete, zog 1946 erst nach Australien, später nach England. Dort änderte die Familie ihren Namen – in Dean.
Susan Dean ist jetzt auf der anderen Seite der Glienicker Brücke angekommen. Es ist heiß, Schweißperlen stehen ihr auf der Stirn. Außer ein paar russisch sprechenden Touristen ist an diesem Tag hier keiner unterwegs. Am Symbolort deutsch-deutscher Geschichte laufen für Susan Dean auch die Fäden der eigenen Familiengeschichte zusammen. 1967 stand sie hier zum letzten Mal, mit ihrer Mutter, auf Berliner Seite. An einen Besuch in Potsdam, in der DDR, sei damals nicht zu denken gewesen, erzählt Susan Dean. Und schießt noch ein Foto.
„Mutter hat von Potsdam immer gesprochen, als ob es gestern war“, sagt die 1956 geborene Londonerin in perfektem Deutsch. Fragen nach den Wurzeln ihrer Familie sind bei Susan Dean trotzdem erst spät aufgetaucht. Dabei hat sie mit ihrem Mann, der wie sie Germanistik studierte, in den 1980er Jahren sogar zwei Jahre in Deutschland gelebt. Damals arbeitete Susan Dean als Sekretärin in Stuttgart. Wohl gefühlt habe sie sich dort nicht: „Die Leute haben mich als Gastarbeiterin behandelt.“
Mit 56 Jahren wollte Susan Dean es jetzt endlich genau wissen, machte sich auf Spurensuche in Potsdam: „Ich will meinen eigenen Kindern etwas weitererzählen können.“ Drei Söhne hat Susan Dean, der jüngste ist jetzt 15. Schon bei der Ankunft in Potsdam in der vergangenen Woche die erste Überraschung: Im Internet stößt Susan Dean auf eine Meldung in den PNN über ihren Großvater, Ludwig Levy. Für den jüdischen Rechtsanwalt und früheren SPD-Stadtverordneten ist eine Gedenktafel am Stadthaus geplant. Außerdem steht Levys Name im „Straßennamen-Pool“ der Landeshauptstadt: Irgendwann soll eine Straße nach ihm benannt werden. „Ich habe geweint, als ich das las“, erzählt die Londonerin. Was ihr Opa in Hitlerdeutschland erlitt, ehe er 1938 nach Palästina flüchtete, konnte sie bisher nur erahnen.
Als Kind lernte Susan Dean ihren Großvater noch kennen. Alle drei Jahre, erinnert sie sich, reiste er von Australien, wo er zuletzt lebte, nach England, um sich für mehrere Wochen bei seiner Tochter Marianne – Susans Mutter – einzuquartieren. Wie ein „preußischer Soldat“ sei er ihr damals vorgekommen, erinnert sich die Enkelin: „Ich hatte Angst vor ihm, Opa war sehr streng.“ Auch gegen sich selbst: Bis ins hohe Alter habe er jeden Morgen kalt geduscht, am Abend habe er sich nur zwei Stück bittere Schokolade gegönnt. Sein Credo: „Man soll aufhören, wenn es am besten schmeckt.“ Von der Zeit in Potsdam habe er nie erzählt.
Dabei war der 1883 hier geborene spätere Rechtsanwalt und stellvertretende Vorsitzende des Stadtparlaments ein bekannter Mann in Potsdam. Wenn er von seiner Wohnung in der Berliner Straße 20 in die Kanzlei in der heutigen Friedrich-Ebert-Straße lief, behielt er den Hut gleich in der Hand: „Sonst hätte er ständig grüßen müssen.“ So hat Susan Deans Mutter ihren Vater später beschrieben.
1933 änderte sich für Ludwig Levy schlagartig alles, wie in einem Buch über jüdische Juristen in Potsdam von Hans Bergemann und Simone Ladwig-Winters nachzulesen ist. Der Anwalt wurde am 24. Juni 1933 wegen angeblicher kommunistischer Betätigung verhaftet – ihm wurde vorgeworfen, KPD-Mitglieder in Prozessen vertreten zu haben. Er saß einige Wochen unter erbärmlichen Bedingungen im Konzentrationslager Oranienburg. Der Veteran des 1. Weltkriegs kommt zwar noch einmal frei, seine Kanzlei darf er aber nicht weiter betreiben, er bekommt Berufsverbot. Stattdessen arbeitete der promovierte Jurist in einer Konservenfabrik, bis er in der Pogromnacht vom 10. November 1938 erneut verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen geschafft wird. Dass er im Dezember 1938 freigelassen wird – unter der Auflage, das Land zu verlassen: Aus heutiger Sicht ist das ein Wunder.
Die Adresse der Kanzlei ihres Großvaters hat Susan Dean bei ihrem Potsdam-Aufenthalt aufgesucht: „Es ist immer noch ein Anwaltsbüro.“ Für sie ein seltsames Gefühl. Das ehemalige Wohnhaus in der Berliner Straße/Ecke Holzmarktstraße steht indes nicht mehr. Susan Dean findet nur noch eine Brache. Sie trifft in Potsdam den heutigen Vorsitzenden des Stadtparlaments Peter Schüler (Bündnisgrüne), spricht mit Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD), der ihr versichert, dass sie eingeladen werde, wenn die Gedenktafel für ihren Großvater aufgehängt wird. Wann das sein wird, kann ihr momentan noch niemand sagen.
Vier Tage ist Susan Dean in Potsdam unterwegs. „Es ist wie eine Heimkehr“, sagt sie am Tag ihrer Rückreise, den kleinen Koffer mit Andenken gepackt. Für sie ist es auch ein neuer Anfang: „Ich will das alles für meine Familie aufzuschreiben.“
Irgendwie habe sie sich bisher nirgends zu Hause gefühlt: „Nicht richtig jüdisch, aber auch nicht richtig christlich, nicht richtig englisch, nicht richtig arabisch, nicht richtig deutsch.“ Die Diaspora, die für die Levys 1933 in Potsdam begann, wirkt bis in die dritte Generation nach. Susan Dean war mit ihrer Familie weltweit unterwegs: Fünf Jahre war Hongkong die Wahlheimat, sechs Jahre Singapur. Mittlerweile betreibt Susan Dean mit ihrem Mann in der Nähe von London ein eigenes Geschäft: Als Hochzeitsplaner begleitet sie junge Paare beim Start ins Familienleben. Durch den Potsdambesuch sieht sie auch in der eigenen Familie klarer. „Jetzt komme ich irgendwo her“, sagt Susan Dean: „Das ist schön.“
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: