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PYAnissimo: Von Zecken und Bahnkunden

Wenn Sie das lesen, bin ich weg. Ich habe mir letzte Woche eine Fahrkarte gekauft.

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Wenn Sie das lesen, bin ich weg. Ich habe mir letzte Woche eine Fahrkarte gekauft. Am Serviceschalter der Deutschen Bahn. „Die Bahn bewegt“ war auf einem Aufsteller zu lesen. Das machte mir Mut. Den braucht man, wenn nur zwei von vier Schaltern besetzt sind und an einem davon ein Problempatient eine geschlagene Stunde verarztet wird. Ein Dutzend Bahnkunden hatte das Vergnügen, die Reklamation zu verfolgen. Während nebenan eine Dame nach Paris wollte und der nette Mann am Tresen ihr mit Engelsgeduld sämtliche Einzelfahrscheine für die zehn Teilstrecken erklärte. Der Begriff Beförderungserschleichung kam mir in den Sinn, so muss das aussehen.

Vielleicht hätte ich hierbleiben sollen, im schönen Potsdam, dachte ich zwischenzeitig, als ich kurz davor war, mir bei Amazon einen Campingstuhl zu bestellen. Und mit den Mitwartenden einen Bridgeclub oder Shantychor zu gründen. Reisen wird überbewertet. „Also wer bitte macht denn Urlaub in Potsdam“, hatte mein Sohn mal gesagt. Da war er noch klein und die touristische Dimension der schönen Welterbestadt Potsdam ihm ein Rätsel.

Dabei ist es doch schön hier. Natur und Parks weit und breit. Man darf nur nicht vom Wege abkommen, geschweige denn sich ausziehen. Kürzlich warnte der Zeckeninformationsdienst (ja, den gibt es) vor Sex im Freien und forderte Pärchen dazu auf, im doppelten Sinn auf Safer Sex zu achten: Außer an Kondome sollten „Freiluftsexaktive in Risikogebieten auch an die FSME-Impfung gegen die von Zecken übertragene Gehirnhautentzündung“ denken.

Was hat man eigentlich früher so gemacht, wenn einen im Sommer die Liebe überfiel? Zimmer gebucht?

In Brandenburg gab es auch andere Tendenzen. Überraschend frühzeitig, schon vor etwa 100 Jahren, gab es hier Menschen, die sich gern nackig machten. Vornehmlich zum gemeinschaftlichen Baden im Freien. Die auf Wiesen Sport trieben, tanzten und sich dabei auch noch fotografierten oder filmten. Nicht mit voyeuristischen Absichten, sondern einfach weil es Spaß machte. Weil man es satt hatte, sich Konventionen anzupassen. Man riss sich die Klamotten vom Leib, befreite seinen Geist, ernährte sich vegetarisch. Manch einer wurde dafür allerdings von den Nazis in den Knast gesteckt – oder in die Irrenanstalt. Wenn Sie wissen wollen, wen das betraf, besuchen Sie die Ausstellung zur Lebensreform in Brandenburg im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte. Die Dachetage mit der Sonderausstellung ist im Übrigen wunderbar klimatisiert.

Heute also bleiben wir gern angezogen, wegen der Zecken. Schützen uns vor Sonnenstrahlung, Ambrosia und Riesenbärenklau. Ist ja alles verständlich. Und trotzdem irgendwie schade. Ich bin an der Nordsee – das mit der Fahrkarte klappte dann doch noch – und probiere Wattwandern. Barfuß.

Unsere Autorin ist freie Mitarbeiterin der PNN. Sie lebt in Babelsberg

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