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Homepage: Zunehmende Vereinzelung
Zwei Wissenschaftler haben in Potsdam eine Untersuchung zu Rechtsterrorismus und Geschichtspolitik vorgelegt, wonach es in der Neonazi-Szene verstärkt zu Vereinzelungstendenzen kommt. Auch der Verfassungsschutz Brandenburg beobachtet, dass Rechtsextremisten sich von Parteistrukturen abwenden
Stand:
Die NPD schwächelt, die Neonazi-Szene gewinnt an Zulauf: Zu diesem Fazit kommt der brandenburgische Verfassungsschutz in seinem Bericht für das Jahr 2011. Danach hat die NPD deutlich an Einfluss verloren, immer mehr märkische Rechtsextremisten wenden sich von der Partei ab. Stattdessen würden sie sich zunehmend in der freien Neonazi-Szene organisieren, also in weniger strukturierten, lokalen Netzwerken, heißt es. „Das macht ihre Beobachtung durch die Behörden natürlich nicht gerade einfacher“, sagte die Leiterin der Verfassungsschutzbehörde, Winfriede Schreiber.
In Potsdam haben Gideon Botsch (Uni Potsdam) und Karin Priester (Uni Münster) nun eine Untersuchung vorgelegt, wonach es in der Neonazi-Szene verstärkt zu Vereinzelungstendenzen komme. In den vergangenen 20 Jahren habe eine Individualisierung des rechten Terrorismus stattgefunden.
„Rechtsextremisten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren“, stellt die Soziologin Karin Priester fest. Im Italien der 60er und 70er Jahre seien rechte Terroristen häufig aus gut situierten Familien und Studentenkreisen gekommen. Im gegenwärtigen Europa dagegen habe man es mit psychisch fragwürdigen Gestalten zu tun, die getragen von selbst gebastelten Ideologien, besinnungslos morden würden. Sei es früher in Italien um eine Abwehr des vermeintlich drohenden Kommunismus gegangen, so handelten Nazis heute aus dumpfer Wut auf Migranten und aus Angst vor dem Verlust der behaupteten Vorherrschaft der „weißen Rasse“.
Den Blick von Extremisten auf die Geschichte und die bewusste Verfälschung und Umdeutung historischer Dokumente untersucht das aktuelle „Jahrbuch für Politik und Geschichte“. Unlängst stellten im Potsdamer Einstein Forum Karin Priester (Uni Münster) und der Politikwissenschaftler Gideon Botsch ihre Arbeit vor. Botsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Uni Potsdam.
Die beiden Rechtsextremismus-Experten kommen zu dem Schluss, dass in Neonazi-Kreisen heute die Verfälschung historischer Tatsachen ein verblüffendes Ausmaß erreicht hat. Verstärkt würden dazu historische Quellen ignoriert, Gideon Botsch spricht von „Geschichtsklitterung“. Ghettoisierung von Juden und deren systematische Ermordung während der NS-Zeit würden geleugnet. Dokumente wie das Protokoll der Wannsee-Konferenz würden als gefälscht bezeichnet und historische Ereignisse wie die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 umgedeutet.
Diese Umdeutungen sollen bei potenziellen Anhängern zu einer Emotionalisierung führen und den Wahn heraufbeschwören, dass man über ein Sonderwissen verfüge, das auch kriminelle Aktionsformen rechtfertige. In diesem Zusammenhang gehöre auch die „Schlussstrich-Debatte“. Durch den Hinweis darauf, dass man nicht für längst vergangene Verbrechen verantwortlich gemacht werden wolle, entzögen sich Neonazis einer aktuellen Diskussion über ihre gegenwärtige Ideologie. Diese sei, durchaus traditionsbewusst, ebenfalls von Ressentiments und Rassenhass geprägt.
Die Aktualität des Buches belegt ein Ereignis aus Potsdam. Die Referenten wiesen auf eine sonderbare Aktion Potsdamer Neonazis vom vergangenen Februar hin. Mit Masken und Fackeln bewehrt war eine Gruppe, die sich zur bundesweiten Vereinigung der „Unsterblichen“ zählt, zum Rathaus gezogen. Dort hatten sie einen Gedenkstein aus Pappe für den SA Mann Horst Wessel abgelegt. „Aktionismus und Visualisierung der Macht gehören von jeher zur Morphologie des Faschismus“, konstatiert Karin Priester in ihrer Studie.
Die Potsdamer Rechtsextremen bezogen sich mit ihrer Kostümierung auf das Südbrandenburger Neonazi-Netzwerk „Spreelichter“. Damit handelten sie innerhalb eines größeren sozialen Gefüges, anders als beispielsweise die Zwickauer Terrorzelle. Karin Priester erwähnt, dass die Zwicker zunächst Unterstützung vom „Kameradschaftsverband“ des „Thüringer Heimatschutzes“ erhielten. Die nun aufgedeckten zehn Morde seien aber vermutlich geplante Aktionen „verwirrter und isolierter“ Einzeltäter. „Das ist provinzieller Do-it-yourself-Terrorismus“, kommentierte die Soziologin.
In den vergangenen 20 Jahren habe eine Individualisierung des rechten Terrorismus stattgefunden. Diese gehe häufig mit einer obsessiven Inszenierung von selbst verfassten, ideologischen Traktaten einher. Der norwegische Massenmörder Anders Breivik hinterließ ein mehr als 1500 Seiten langes Pamphlet. Dieses beginne in der Steinzeit und reiche bis zur behaupteten „Vorherrschaft der weißen Rasse“, die nach Ansicht von Breivik gegenwärtig bedroht sei. Auch der amerikanische „Unabomber“ Theodore John Kaczynski, ein hoch begabter Mathematiker, verfasste ein Manifest. Das veröffentlichten die New York Times und die Washington Post am 19. September 1995, weil der Terrorist anderenfalls Anschläge androhte. „Bei diesen Einzelaktionen spielt der ‚Rattenfängergedanke’, anders als bei den Nazis sonst, keine Rolle. Das sind lone-wolf-Aktionen,“ schätzt Karin Priester.
Rechtsextreme Parteien dagegen hätten ein Doppelgesicht, so die Soziologin. Einerseits agierten sie legal, zeigten aber andererseits Sympathien für gewalttätige Aktionen an ihren rechten Rändern. Charakteristikum der rechten Terrorszene seien jedenfalls noch immer eine unterstellte Weltherrschaft des verschwörerischen Judentums und ein fehlgeleiteter Männlichkeitskult. Allerdings seien bei den Neonazis die Frauen im Vormarsch und besetzten in den vergangenen Jahren auch Parteifunktionen. Die Terroristin Beate Tschäpe sei allerdings bisher singulär.
Das Jahrbuch, in dem Priester und Botsch ihre Essays veröffentlicht haben, geht auch auf Terrorismus vonseiten der RAF und auf Extremismus in den USA ein. Das Buch versammelt erstmals verschiedene Studien, die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln Strategien untersuchen, mit denen Neonazis und Terroristen versuchen, eine historisch nicht belegbare, ideologisch geprägte Geschichtsschreibung zu etablieren. (mit dpa)
Jahrbuch für Politik und Geschichte; Franz Steiner Verlag; Band 2, ISBN 978-3-515-10057-1; 52 Euro.
Richard Rabensaat
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